Abwehrboss und Rassismus Der bittere Kampf, der DFB-Star Rüdiger aufgezwungen wird
05.07.2024, 07:42 Uhr
Der deutsche Abwehrboss: Antonio Rüdiger.
(Foto: picture alliance / M.i.S.)
Lange heißt es, die deutsche Fußball-Nationalmannschaft habe keine "Verteidigungsmonster". Bei der Heim-Europameisterschaft zeigt sich, das stimmt so nicht, denn es gibt Antonio Rüdiger. Die Geschichte des Real-Stars ist auch eine über Rassismus und Deutschland.
Spaniens Spielmacher Pedri hat jetzt schon keine Lust. Er weiß, was auf ihn zukommt. Der Barça-Star kennt Antonio Rüdiger aus der spanischen Fußball-Liga. Der Deutsche von Real Madrid sei zwar ein "sehr guter und schlagkräftiger" Innenverteidiger, aber eine Sache stört ihn dann doch. "Das mit seinem Kneifen erscheint mir ein Mangel an Respekt, weil es weh tut und nervt", sagte er vor dem EM-Viertelfinale gegen das DFB-Team (18 Uhr/ARD, MagentaTV und ntv.de-Liveticker).
Zweikämpfe mit Antonio Rüdiger sind für seine Gegner nie angenehm. Er wirft sich mit allem, was er hat, in die Duelle, blockt Schüsse, verhindert Pässe. Manchmal kneift er, manchmal zuppelt er an den gegnerischen Stürmern herum, manchmal redet er auch ununterbrochen auf sie ein. All das, vor allem seine Leidenschaft, macht ihn nicht nur zum Abwehrboss des DFB-Teams, sondern auch zum emotionalen Leader, zu einer tragenden Stütze. "Bei Antonio wissen wir eh, dass er immer gut spielt", sagte Bundestrainer Julian Nagelsmann zuletzt noch. Ein größeres Kompliment gibt es wohl kaum.
Das war nicht immer so. Bei der Katar-WM gab es eine Szene, die damals für Aufsehen sorgte. Das erste Gruppenspiel verlor die DFB-Elf mit 1:2. Als es noch 1:0 stand, lief Rüdiger den Japaner Takuma Asano ab. Dabei hob er im Dauerlauf seine Knie auffällig hoch, einige legten ihm das damals als Arroganzanfall aus. Rüdiger selbst verneinte das. Doch dafür war einmal bekannt, solche Szenen passierten ihm häufiger. Auch im Länderspieljahr 2023 fiel er besonders mit seinem Wankelmut auf. Der Bundestrainer unkte im November noch, dass die DFB-Elf keine "Abwehrmonster" hätte.
Doch all das scheint der Vergangenheit anzugehören. Seine Leistung im Achtelfinale gegen Dänemark war überragend - vor allem, weil der 31-Jährige beim 2:0-Erfolg ganz ohne Foul ausgekommen ist. In den letzten Sekunden blockte er den Schuss des Dänen Jannik Vestergaard. Die Bilder danach sind bemerkenswert: Rüdiger sank auf den Boden, ballte im Sitzen die Fäuste und jubelte, als hätte er ein Tor erzielt. Wieder zu Null, schon das zweite Mal bei diesem Turnier. "Wenn ich jetzt so nachdenke, dann frage ich mich: Was habe ich gemacht? Aber das ist einfach so aus der Emotion heraus gekommen. Ich denke, das war ein wichtiger Block", sagte er später.
"Wir sind froh, dass wir ihn haben"
Mit seiner Art hat Rüdiger es geschafft. Mit dem Fußball raus aus der Armut. Er kommt ursprünglich aus Berlin-Neukölln, der Weißen Siedlung. Ein Ort, der noch heute nicht unbedingt die besten Startchancen ins Leben bietet. Doch Rüdiger gelang es. Sein Weg führte ihn über Berlin, Dortmund, Stuttgart, Rom, Chelsea London bis zu Real Madrid und dem legendären Santiago Bernabéu. Als Real in dieser Saison die Königsklasse gewinnt, hält er den Laden hinten zusammen. Er ist zweifacher Champions-League-Sieger, mit zwei verschiedenen Klubs.
Und ist dabei beliebt. "Er ist, wie er ist und so muss man ihn lassen", sagte Ex-Real-Kollege Toni Kroos unter der Woche über ihn. Der Verteidiger gebe seinen Team-Kameraden unfassbar viel. "Wir sind froh, dass wir ihn haben", sagte Kroos und schiebt lachend hinterher: "außer im Training." Bei Real habe er am Anfang den ein oder anderen über die Seitenlinie getreten und sich trotzdem wahnsinnig schnell, wahnsinnig beliebt gemacht, erklärte Kroos.
Doch das ist nicht überall so. Denn da ist dieser andere Kampf, der Rüdiger aufgezwungen wird. Einige schauen besonders von Rechts dann genau hin, wenn es nicht um Fußball geht. Rüdiger wurde gegen Dänemark für seine Leistung zum "Player of the Match" gewählt. Bei der UEFA zieht das dann ein Prozedere nach sich, er muss zu mehreren Interviews. In einem sagte er, der 2:0-Erfolg fühle sich ganz gut an, suchte dann aber nach etwas, was noch nicht perfekt ist. "Was wir kritisieren können, ist, dass wir sie nicht früher getötet haben", fuhr er fort.
Der Tauhid-Finger
Die, die ihn missverstehen wollten, taten das dann auch. Sie empörten sich über die Formulierung "töten". Etwa der ehemalige Berliner AfD-Chef Georg Paszdersk, der sich auf X über eine "Entgleisung" echauffierte. Klar, Rüdiger wählte nicht den elegantesten Begriff und man kann durchaus kritisieren, dass er zu martialisch sei. Jedoch gehört der fest zum Fußballvokabular. Gemeint ist, dass ein überlegenes Team seinem Gegner die Hoffnung raubt, noch eine Chance zu haben. Kroos sagte, er glaube, dass "jeder auch den Zusammenhang verstanden hat, deswegen muss man die Geschichte nicht größer machen, als sie ist".
Es gibt Menschen, die lauern nur darauf, Rüdiger irgendetwas unterstellen zu können. Er passt nicht in ihre Idealvorstellung eines deutschen Nationalspielers, schließlich ist er Schwarz und praktizierender Moslem - auch, wenn das heutzutage eigentlich keine Rolle spielen sollte. Seit Monaten arbeitet sich das rechtspopulistische Portal des Ex-"Bild"-Chefs Julian Reichelt an ihm ab. Alles fing im März mit einem Instagram-Bild zu Beginn des Fastenmonats Ramadan an, das mittlerweile Millionen Likes hat. Rüdiger hob darauf den rechten Zeigefinger.
Reichelt wollte darin einen "Islamisten-Gruß" erkennen, Rüdiger stellte klar, dass es sich um den "Tauhid-Finger" handele. Im Islam symbolisiere das "Einheit und die Einzigartigkeit Gottes", erklärte der DFB-Star. Und schob einige Tage später hinterher: "Ich lasse mich nicht beleidigen und als Islamist verunglimpfen." Gegen die Vorwürfe wehrten er und der DFB sich juristisch. Dass die UEFA dann die gleiche Geste für ein Promo-Foto haben wollte, ist mehr als unsensibel vom Verband - und zwang Rüdiger dazu, sich nochmals erklären zu müssen.
Die Umfrage
Seine gesamte Karriere begleitet Rüdiger, dessen Mutter in Sierra Leone geboren ist, Rassismus. Mit acht Jahren muss er seinen Vater schon fragen, was das N-Wort bedeutet. Auch später macht er noch schwierigste Erfahrungen: etwa in seiner Chelsea-Zeit, 2019, kurz vor Weihnachten. Bei einer Ecke machten Fans von Tottenham Hotspur Affenlaute in seiner Nähe. Die Schmähungen trafen ihn tief. Er habe sich gefühlt, "als wäre ich kein Mensch, als wäre ich ein Tier. Ein Affe", erzählte er damals dem "Spiegel". "Ich glaube, dass sich niemand in diese Situation reinfühlen kann, der das noch nie erlebt hat." In diesem Moment habe er sich unfassbar allein gefühlt.
Zu Beginn seiner Karriere war er noch laut, wenn es um dieses Thema ging, irgendwann dann nicht mehr. Ihm sei das selbst auch aufgefallen. "Nicht, weil es nichts bringt, so weit würde ich nicht gehen", sagte er im Februar dem "Kicker". "Aber es ist einfach so: Wenn es um konkrete Handlungen geht, passiert nicht wirklich was. Rassismus steckt im System, und wenn es da ist, ist es schwierig rauszuholen."
Wie tief der Rassismus noch immer verwurzelt ist, zeigte vor der EM eine WDR-Umfrage. Jeder Fünfte (21 Prozent) gab darin an, dass er es besser finden würde, wenn die deutsche Fußball-Nationalmannschaft wieder "weißer" wäre. 17 Prozent fanden es "schade", dass İlkay Gündoğan der Kapitän ist, der eine türkische Migrationsgeschichte hat. Gündoğan selbst sagte, dass ihn die Ergebnisse nicht überraschten, er sie aber traurig fände. Bisher haben sich diese Zahlen noch nicht gezeigt. Aber was ist, wenn genau diese Spieler ein Fehler machen? Werden sie dann zu Sündenböcken?
Es ist eine Plattitüde, doch Rüdiger gibt seine Antwort auf dem Feld. Groß geworden ist er auf einem Berliner Bolzplatz, so geht die Erzählung. "In den Käfigen von Berlin gewinnt der Stärkere - so einfach ist das", sagte er mal. "Man lernt, sich durchzusetzen, egal, wie alt der Gegner ist. In den Käfigen zählt es nicht, wie alt du bist - es zählt nur, ob du gut bist oder nicht." Man merkt es ihm noch heute an.
Quelle: ntv.de