
Julian Nagelsmann war aufgebracht.
(Foto: picture alliance/dpa)
Es ist die erste Kontroverse im Vorfeld der Heim-EM: Eine Umfrage offenbart Rassismus gegen deutsche Fußball-Nationalspieler. Bundestrainer Julian Nagelsmann ist empört, sein Vizekapitän Joshua Kimmich auch. Ihre Kritik trifft den Punkt aber nicht vollständig.
Beinahe hätte es die deutsche Fußball-Nationalmannschaft geschafft. Fast wäre sie ohne Störgeräusche bis zur Heim-Europameisterschaft gekommen, ohne großes Theater, ohne große politische Themen. Bis eben zum vergangenen Wochenende: Seither sorgt eine Umfrage für Aufsehen, deren Erkenntnisse schockieren. 21 Prozent der Befragten fänden es demnach besser, wenn die Nationalelf "weißer" wäre. 17 Prozent sagten, dass sie es schade fänden, dass der DFB-Kapitän İlkay Gündoğan türkische Wurzeln habe.
Nicht nur die Ergebnisse hatten Bundestrainer Julian Nagelsmann aufgebracht. "Alleine die Fragestellung war Wahnsinn", sagte er vor den versammelten Journalistinnen und Journalisten im EM-Quartier in Herzogenaurach. Er hoffe, nie wieder solch eine "scheiß Umfrage" lesen zu müssen. Nagelsmann sei schockiert gewesen, dass solche Fragen gestellt würden - und dass Menschen sie auch noch beantworten.
Er finde das skurril, erklärte Nagelsmann weiter. Man fahre in den Urlaub, um andere Kulturen kennenzulernen. "Und dann kommen andere Kulturen hier rein und wir beschweren uns dann darüber", erklärte er. "Da muss ich nicht in den Urlaub fahren, da kann ich immer bleiben, da wo ich bin." Im Gegenteil: Es sei schön, andere Kulturen kennenzulernen und gemeinschaftlich an etwas zu arbeiten. "Wie jetzt beim Fußball: etwa gemeinsam Europameister zu werden, das ist doch eine tolle Sache."
Drei Turniere, eine Lehre
Statt Manuel Neuer, der nach genau 550 Tagen gegen die Ukraine am Abend (20.45 Uhr/ARD und im ntv.de-Liveticker) sein DFB-Comeback geben wird, beherrscht nun ein anderes Thema die Debatte. Vielleicht auch, weil es bislang nicht viel Kontroverses rund um das DFB-Team gegeben hatte. Die Nicht-Nominierung der altgedienten Helden Leon Goretzka und Mats Hummels löste keinen großen Debattensturm aus. Auch sonst waren sämtliche Nachrichten, die aus dem Trainingslager im thüringischen Blankenhain drangen, erschreckend positiv.
Das war Absicht. Denn nach den drei verbockten Turnieren sollte diesmal alles anders sein: keine One-Love-Armbinde mehr, niemand hält sich den Mund zu. Es sollte die große Lehre aus dem Kommunikationschaos aus Katar sein. Der Verband kümmert sich um die politischen Themen, den Spielern sollen keine Bekenntnisse mehr abverlangt werden. Sie sollen sich darauf konzentrieren, die Heim-EM zum Erfolg zu bringen. Wer sich äußern will, kann das aber weiter machen. Bislang hat das gut geklappt - etwa als es um das pinke Auswärtstrikot ging.
Vor anderen Turnieren war eben das schiefgegangen. Bevor es 2018 zur Weltmeisterschaft nach Russland ging, sorgte ein Foto von Mesut Özil und İlkay Gündoğan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan für Aufsehen. Die vergangene Europameisterschaft 2021, die über den gesamten Kontinent ausgetragen wurde, war begleitet von Corona-Debatten. Und die Wüsten-WM 2022 in Katar war politisch so brisant, dass das Sportliche in den Hintergrund rückte.
"Absurd, so eine Frage zu stellen"
Nun also die Umfrage. Schon am Samstag war Joshua Kimmich darauf angesprochen worden. Auch der Bayern-Star hielt ein bemerkenswertes Statement. "Wer im Fußball aufgewachsen ist, der weiß, dass das absoluter Quatsch ist", sagte er. Er würde "viele Spieler sehr vermissen, wenn sie nicht hier wären". So etwas sei "absolut rassistisch". Es sei "absurd, so eine Frage zu stellen", dies sei "kontraproduktiv". Für das DFB-Team gehe es bei der Heim-EM darum, "das ganze Land zu einen und gemeinsam etwas zu erreichen". Dabei wolle sie "alle Menschen in Deutschland hinter uns kriegen".
Kimmich vertritt verständlicherweise die Sicht eines Fußballers, der sich auf ein hoffentlich mitreißendes Großereignis vorbereitet und sich deshalb Ruhe wünscht. Dennoch: So nachvollziehbar die Kritik an der Frage und ihrer Formulierung ist, das größte Problem ist das Ergebnis - der Rassismus. Und, so traurig das auch ist: Die Ergebnisse sind nicht wirklich überraschend. Nach ihrem Triumph im vergangenen Winter wurden die U17-Weltmeister rassistisch angefeindet, davor die Talente der U21. Der Fußball hat dieses Problem nicht exklusiv: Der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge hat jeder zwölfte Deutsche ein rechtsextremes Weltbild.
Zudem: Die Frage war nicht aus der Luft gegriffen. Den Kontext liefert eine ARD-Dokumentation. In "Einigkeit und Recht und Vielfalt" versucht Journalist Philipp Awounou nachzuzeichnen, wie die Nationalelf nach dem "Sommermärchen" immer multikultureller wurde. Dort wird Awounou mit eben jener Aussage konfrontiert, dass die Nationalelf wieder "weißer" sein sollte. Der WDR erklärte, man wollte danach wissen, wie verbreitet diese Einstellung in der Bevölkerung ist. Erfreulich ist, dass 66 Prozent es gut finden, dass viele Nationalspieler einen Migrationshintergrund haben.
Dabei überschattet die Umfrage den nachdenklichen Rest der Dokumentation. Die knapp 45 Minuten sind voller schwieriger Fragen und schmerzhafter Momente. Ex-Nationalspieler Gerald Asamoah spricht über Anfeindungen in den 1990er-Jahren, die Ex-Fußballerin Tugbal Tekkal erzählt, wie ihr der Fußball erst Zugang zur Mehrheitsgesellschaft verschafft hat, der aktuelle Nationalspieler Jonathan Tah berichtet, wie er selbst Rassismuserfahrungen gemacht hat.
Die Frage ist, was sich aus der Debatte entwickelt. Denn das Thema, struktureller Rassismus, bleibt - auch nach der Heim-EM, die in knapp zwei Wochen beginnt. In der Mannschaft sei die Umfrage kein großes Thema gewesen, sagte Kimmich schon am Samstag. Das nächste Thema steht ohnehin vor der Tür. Am Abend wird es im Nürnberger Max-Morlock-Stadion wieder politisch, wenn das DFB-Team auf die Ukraine trifft. Bundeskanzler Olaf Scholz hat seinen Besuch angekündigt. Nicht nur das: Die Partie ist der erste Test seit den euphorisierenden März-Länderspielen mit den Siegen gegen Frankreich und die Niederlande. Sollte das DFB-Team verlieren, könnte es sein, dass es dann bald wieder sportliche Störgeräusche gibt.
Quelle: ntv.de