Enorm erfolgreich, ewig kritisiert Joachim Löw und sein verkanntes Genie

Joachim Löw - von manchen verkannt

Joachim Löw - von manchen verkannt

(Foto: imago/Moritz Müller)

Ist Joachim Löw nun ein Taktikfuchs? Oder doch nur ein Glückspilz, der die beste Mannschaft der Welt trainieren darf? Diese Frage spaltet weiterhin die Fußballgemeinschaft - national wie international. Dabei ist die Antwort vor dem EM-Halbfinale eindeutig.

WM-Titel gewonnen, Italien-Trauma besiegt – trotzdem werden wieder Zweifel an Joachim Löw laut. ARD-Experte Mehmet Scholl kritisierte nach dem Viertelfinalsieg der deutschen Mannschaft die taktischen Änderungen des Bundestrainers. Auch im Ausland wird der 56-Jährige kritisch beäugt. Michael Cox, der Gründer von "Zonalmarking.net" und quasi Urvater der Taktikblogger, moserte im Podcast des "Guardian", dass er trotz des WM-Titels von Löw nicht restlos überzeugt sei. Löw hat Cox zufolge die richtigen Ideen, setzt sie aber nicht perfekt um.

Der DFB sieht das natürlich komplett anders. "Wer Jogi kennt, der weiß, er ist ein Taktikfuchs", erwiderte Oliver Bierhoff auf die öffentliche Scholl-Kritik. "Er hat klare Vorstellungen über das, was er machen will."

Schmach von 2012

Die Frage nach Löws Tauglichkeit als Taktiker hat eine lange Geschichte. Bei der WM 2006 im eigenen Land, als er noch im Schatten von Teamchef Jürgen Klinsmann agierte, galt Löw als das Taktikhirn hinter dem charismatischen Motivator. Klinsmann bestritt Jahre später in einem Interview mit dem Magazin "11 Freunde" diese Rollenverteilung vehement.

Sami Khedira ist wichtig für das deutsche Spiel - aber verletzt und gegen Frankreich nicht dabei.

Sami Khedira ist wichtig für das deutsche Spiel - aber verletzt und gegen Frankreich nicht dabei.

(Foto: imago/Laci Perenyi)

Löws Ruf als Taktikgenie war da schon angeknackst, das Halbfinal-Aus gegen Italien bei der EM 2012 hatte seine taktische Kompetenz gar komplett in Frage gestellt. Seine Entscheidung, Toni Kroos als Manndecker auf Andrea Pirlo anzusetzen und gleichzeitig Mesut Özil in eine unpassende Flügelspielerrolle zu stecken, wurde Löw zum Vorwurf gemacht. Die EM vor vier Jahren ist als Ganzes ein schwarzer Fleck in der Karriere des Bundestrainers.

Er fand damals über mehrere Wochen hinweg nicht die passende personelle Besetzung und tat sich schwer, die Mannschaftsteile aufeinander abzustimmen. Hätte Cox die erwähnte Kritik also vor vier Jahren geäußert, wäre sie angebracht gewesen. Aber mittlerweile präsentiert sich Löw als ein reiferer Trainer. Trotz seiner großen Erfahrung machte er noch eine Weiterentwicklung durch.

Das falsche Narrativ von 2014

Doch genau das wird Löw weiterhin nicht zugestanden und dabei mit Gerüchten und Halbwahrheiten garniert. So soll er sich etwa während der WM 2014 dem Willen der Mannschaft nach dem wilden Achtelfinalspiel gegen Algerien gebeugt haben. Ab dem Viertelfinale kam Philipp Lahm nicht mehr im Mittelfeld, sondern wieder auf der Rechtsverteidigerposition zum Einsatz.

Die öffentliche Beurteilung war schnell klar: Löw musste von seinem System mit zwei defensiven Außenverteidigern abrücken. In Wahrheit agierte Lahm gerade im Viertelfinale gegen Frankreich ebenso zurückhaltend wie zuvor Shkodran Mustafi oder Jérôme Boateng, schlug keine Flanke und versuchte kein Dribbling. Auch ein angeblicher Formationswechsel von 4-3-3 auf 4-2-3-1 erfolgte nie, wurde aber gerne als Grund für die Erfolge in den drei entscheidenden K.O.-Partien angeführt.

Das gilt auch für Mario Gómez - er wird gegen Frankreich nicht auflaufen können.

Das gilt auch für Mario Gómez - er wird gegen Frankreich nicht auflaufen können.

(Foto: imago/Moritz Müller)

Experte Scholl wärmte das Thema nach dem Italien-Spiel wieder auf. Seine Meinung: Ab dem Viertelfinale bei der WM 2014 habe der Bundestrainer die Ideen seines Stabs ignoriert und seiner Mannschaft vertraut.

Leider unterliegt diese Überlegung noch dem viel zu oft zitierten Beckenbauer'schen Leitsatz von "Geht's raus und spielt's Fußball", ist aber im Jahr 2016, in dem vermeintliche Fußballzwerge wie Wales mit ausgeklügelten Systemen an den Start gehen und auf höchstem Niveau jede kleine taktische Veränderung großen Einfluss haben kann, schlichtweg nicht mehr zeitgemäß.

Den Prinzipien treu

Bei all seinen Schwächen und auch Fehlgriffen wie 2012 wird eines immer deutlicher: Löw ist gerade für den Job eines Nationaltrainers gut geeignet. Dies lässt sich nicht allein an Ergebnissen wie dem WM-Triumph festmachen oder der beeindruckenden Tatsache, dass er sein Team bei Großturnieren immer mindestens ins Halbfinale geführt hat. Der 56-Jährige präferiert einen im Vergleich zu den Guardiolas und Tuchels simpleren Ballbesitzfußball, hebt sich aber trotzdem von Konkurrenten ab.

Ein Nationaltrainer hat im Jahr nur wenige Trainingseinheiten mit seinem Team zur Verfügung. Das Personal wechselt aufgrund von Formschwankungen und Verletzungen ständig. Die Bestbesetzung steht bei den Qualifikations- und Testspielen selten auf dem Feld. Insofern darf niemand eine taktische Ausrichtung erwarten, die bis ins letzte Detail ausgeklügelt ist und im Training durchgeprobt wurde.

Mats Hummels ist zwar nicht verletzt, aber gelbgesperrt - und fehlt in der Innenverteidigung.

Mats Hummels ist zwar nicht verletzt, aber gelbgesperrt - und fehlt in der Innenverteidigung.

(Foto: imago/Ulmer/Teamfoto)

Vielmehr braucht es gewisse strategische Eckpfeiler, die der Trainer vorgibt und im Auge behält. In diesem Kontext erscheint die Kritik Scholls unangebracht. Obwohl Löw zum Italien-Spiel die Grundformation seines Teams änderte, warf er sein Konzept nicht über den Haufen. Er änderte lediglich die Grundordnung und damit die Aufteilung seiner Spieler, um dem italienischen Pressing entgegen zu wirken und den präferierten Ballbesitzfußball auch gegen die Squadra Azzurra fortführen zu können. Damit wurde zudem deutlich: Löw hatte nicht nur die richtige Idee, sondern er setzte sie auch sehr gut um.

Der Bundestrainer hatte gesehen, wie die spanischen Aufbauspieler, die nicht minder talentiert sind, gegen das Pressing Italiens im Achtelfinale in Schwierigkeiten kamen und entschied sich für die Dreierkette, die zuvor in Freundschaftsspielen getestet sowie im Training geübt wurde. Die DFB-Elf ging damit also nicht unvorbereitet vor und setzte spontan auf eine neue Grundformation, weil es etwa Chefscout Urs Siegenthaler aus dem Nichts heraus vorschlug, wie Scholl bei seiner Nachbetrachtung unterstellte.

Gegen Frankreich wieder auf Prüfstand

Nachdem eine gefürchtete italienische Mannschaft über weite Teile der Partie dominiert wurde und lediglich eine undurchdachte Handlung von Jérôme Boateng das Spiel in die Länge zog, wartet mit Frankreich nun der Gastgeber auf Deutschland. Doch besorgniserregender als die Offensivwucht von Antoine Griezmann, Dimitri Payet und Co. sind die Ausfälle im DFB-Team. Angesichts der personellen Misere wird Löw erneut auf den Prüfstand gestellt und muss taktische Änderungen in Betracht ziehen.

Die Franzosen sind auf den Außenbahnen anfällig. Sie vernachlässigen bei Rückzugsbewegungen die Seiten. Dies wäre ein gefundenes Fressen für die deutschen Flügelspieler. Aber mit Mario Gómez fehlt der beste offensive Luftzweikämpfer.

Frankreich ist gefährlich bei Flanken. Fünf der bisherigen elf Treffer wurden per Kopf erzielt. Da braucht es höchste Konzentration in der deutschen Innenverteidigung. Aber mit Mats Hummels fehlt einer der besten defensiven Kopfballspieler.

Die Équipe Tricolore liebt es zu kontern und überfallartig nach vorn zu spielen. Die beiden Achter im Mittelfeld, Paul Pogba und Blaise Matuidi, sind brillant, wenn sie durch die Halbräume vorstoßen. Deutschland muss also aggressiv im Gegenpressing sein und die Umschaltangriffe frühzeitig unterbinden. Aber mit Sami Khedira fehlt einer der besten Gegenpressingspieler im Mittelfeld.

Löw muss Lösungen für die richtige personelle Besetzung finden und die eine oder andere taktische Umstellung vornehmen. Er ist wieder gefordert. Sollte die deutsche Mannschaft trotz der Ausfälle den Gastgeber aus dem Turnier werfen, so wird es wieder Kritik geben: Warum eigentlich die Spieler allein den Sieg einfuhren, warum Löw unnötige Änderungen vornahm oder warum dieser Taktikkram in einem einfachen Spiel wie Fußball komplett überbewertet ist. Und sie wird unberechtigt sein.

Quelle: ntv.de

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