Das Tagebuch zur Wüsten-WM Beim anderen Finale wütet niemand gegen den Schiri aus Katar

Ein Schatten legt sich über eine Katar-Trainingsjacke.

Ein Schatten legt sich über eine Katar-Trainingsjacke.

(Foto: Stephan Uersfeld)

Das Spiel um Platz drei braucht eigentlich kein Mensch? Falsch. In Asian Town steigt die andere WM, abseits vom Glitzer und Reichtum Dohas. Arbeitsmigranten leben Kroatien-Marokko hier echter und ursprünglicher. Am Ende steigt sogar die größte Party Katars, doch große Missverständnisse bleiben.

Die Frage ist berechtigt: Warum gibt es bei der Weltmeisterschaft überhaupt ein Spiel um den dritten Platz? Normalerweise ist Fans die Partie egal und die Teams selbst haben wenig Lust nach dem verlorenen Halbfinale. Die Antwort lautet: für Abende wie diesen in Asian Town in der Nähe von Doha.

Tatsächlich wollen Kroatien und Marokko diesen dritten Platz - und die Menschen in Asian Town wollen diese Partie. Im örtlichen Cricket Stadion findet die andere WM statt. Abseits vom Glitzer. Von prunkvollen Arenen. Von aktuellen und ehemaligen Superstars des Fußballs auf dem Platz und auf den Tribünen. Von "Metro-This-Way", von bombastischer Party-Musik, von eingereisten Touristen.

Auf dem Feld und den Tribünen sitzen etwa 2500 Migrantenarbeiter. Tatsächlich ausschließlich Männer. Sie haben keine Möglichkeit am Funkel-Leben in Doha teilzunehmen, dafür sind sie zu arm und abgesondert vom Rest der Gesellschaft. Sie leben in den Ghettos der Asian Town und der Industrial Area in kargen Wohnblöcken. Zusammengepfercht in kleinen Zimmern. Das Cricket Stadium ist der Ort, an dem sie zusammenkommen, um an dem Turnier teilzuhaben, das sie erschaffen haben. Es ist eine Parallelwelt, die unausgesprochen die Klassenwelt Katars aufzeigt.

Mit Kapuzen im Gesicht

Aber die Migrantenarbeiter lieben Fußball, obwohl sie größtenteils von dem Sport keine Ahnung haben. Sich viel mit Fußball zu beschäftigen, Spiele der Premier League auf Streamingdiensten zu schauen, Fachliteratur durchzublättern oder gar Partien im Stadion zu besuchen, sind Privilegien, die sie nicht haben. Aber das macht nichts. Sie feiern das Event, feiern, dass was los ist in ihrer Gegend. Und das macht Laune. Weitaus mehr als bei vollgestopften Coca-Cola-Fanfests, wo Ballermann, Après-Ski und Oktoberfest (ohne den Alkohol, versteht sich) zusammenkommen. Die FIFA hat hier trotzdem ihre Hand drauf. Es ist eine offizielle Fanzone, aber die Security hier ist weniger aufdringlich, tastet nur kurz die Taschen ab. Wahrscheinlich würde niemand auf die Idee kommen, hier einen Anschlag zu verüben.

Es windet im Stadion. Viele der Arbeiter haben sich Kapuzen ins Gesicht gezogen. Zum ersten Mal sieht man in Katar Mützen. Das liegt daran, dass hier draußen keine hunderte Meter hohe Beton-Bauten stehen, die alles und jeden aufhalten. Selbst den Wind. Aber der Stimmung tut die frische Brise keinen Abbruch. Gleich zu Beginn herrscht wildes Jubeln und Kreischen. Kroatien legt vor, Marokko antwortet prompt. Die Atlaslöwen haben hier klar die Fans auf ihrer Seite.

Die Zuschauer finden im Cricket Stadion auf den Rängen und auf dem Boden Platz.

Die Zuschauer finden im Cricket Stadion auf den Rängen und auf dem Boden Platz.

(Foto: David Bedürftig)

Fliegende Händler laufen durch die Reihen, bieten Popcorn, Snacks und Getränke an. Alte Fluchtlichtmasten leuchten das Cricket-Stadium aus, geben den Blick auf die kleinen Fußballplätze und Unterhaltungsmöglichkeiten auf dem Platz frei. Vor der Betonschüssel sitzen weitere Zuschauer auf langen Bierbänken oder in Holzverschlägen. Überall wird das Spiel mit englischem Kommentar übertragen. An den Essensständen ist wenig los. Dort wird das FIFA-Allheilmittel VISA nicht akzeptiert. Cash ist hier König. Für jede Bevölkerungsgruppe gibt es andere Anlaufpunkte: South Indian, Filipino, Arabic, Hyderabadi, Neapli, Indian & Chaat, Chinese, Pakistani, noch einmal Filipino, aber mit Bubble Tea und dann noch Mandi und North Indian.

"Gibt es bei Euch Green Cards?"

Zur Halbzeit führt Kroatien mit 2:1. Der wunderschöne Treffer von Mislav Orsic wird nur verhalten bejubelt, auch weil zahlreiche Zuschauer bereits Minuten vor dem Pausenpfiff zum Ausgang strömen. Sie verlassen das Gelände, um ihren Jobs nachzugehen, um wenigstens noch ein wenig zu schlafen, bevor sie der Alltag ein letztes Mal holt. Auf der Bühne erscheint eine Ansagerin, die sich freut, dass Kroatien führt und Marokko noch eine Chance auf den Sieg hat. Sie spricht in mehreren Sprachen, stammt aus Indien und ist eine der wenigen Frauen auf dem gesamten Gelände.

Die Fanzone im Cricket Stadion von Asian Town.

Die Fanzone im Cricket Stadion von Asian Town.

(Foto: Stephan Uersfeld)

Auch Denis aus Kenia ist unter denen, die die Halbzeitshow nicht mehr mitbekommen. Die WM hat er als Sicherheitskraft an einem der Teamhotels verbracht. Er wird in den nächsten Tagen nach Mombasa zurückfliegen und 2300 Riyal, rund 600 Euro, verdient haben. Ein kleiner Reichtum in Kenia, erzählt er und lädt direkt in die Hafenstadt in Ostafrika ein. Wie die restlichen weit über tausend Kenianer, die während des Turniers in Doha gearbeitet haben, hat er Flug, Essen und sein Visum bezahlt bekommen, sagt er. Vor dem Turnier hat er eine schnelle Ausbildung zum Security Guard absolviert. Während des Turniers gehörte er zu der Armee der Gesichtslosen, die den reibungslosen Ablauf garantieren.

Mit großem Interesse fragt er nach Europa und wie man dorthin kommt. "Gibt es bei Euch Green Cards?", fragt er und sagt, dass er nicht als Flüchtling ankommen will. "Wie lebt ihr in Europa? Und wie kalt ist es da?", fragt Denis und kann es nicht fassen, dass es oberhalb des Polarkreises im Winter dunkel bleibt und sogar in Deutschland die Temperaturen in die Minusgrade gehen. Trotzdem möchte er da hin und nichts wie weg aus Katar, dem Land, das ihm kurzfristig eine Arbeitsmöglichkeit geboten hat, ihn aber aller Freiheiten beraubte.

Wieso all der Ronaldo-Hass?

ntv.de-Autor Bedürftig diskutiert mit einem Arbeiter über die Karriere von Luka Modric.

ntv.de-Autor Bedürftig diskutiert mit einem Arbeiter über die Karriere von Luka Modric.

(Foto: Stephan Uersfeld)

Bei Denis sind es nur wenige Wochen, anders als bei Rupal, einem Gastarbeiter aus Nepal. Der 24-Jährige arbeitet seit viereinhalb Jahren als Putzkraft in einem der Krankenhäuser Dohas. Ununterbrochen. "Die ganze Zeit durfte ich keinen Urlaub nehmen, aber jetzt bald fliege ich zum ersten Mal meine Eltern besuchen." Seine Firma muss er dafür anbetteln, erzählt er beinahe beiläufig. Rupals Vater und Mutter haben in Nepal eine kleine Farm, bauen "aber nur zum selber Essen, nicht zum Verkaufen" an. Nach der Schule hatte er selbst keine Jobchancen und schlug den Weg in Richtung Wüstenstaat ein, wie so viele vor und nach ihm.

Rupal ist ein großer Fußball-Fan und erinnert sich noch dunkel an den WM-Sieg Deutschlands in Rio 2014, auch wenn der Sport in Nepal kaum verbreitet ist. Heute will er, dass Kroatien gewinnt. Modrić ist sein Lieblingsspieler. Der 24-Jährige hätte die Kroaten gerne im Finale gegen Frankreich gesehen, aber jetzt soll dann die Équipe Tricolore den Titel holen, weil er Mbappé gut findet. Ronaldo ist aber noch besser. Rupal kann nicht verstehen, warum manche Leute "diesen tollen Spieler" so hassen. Er hätte ihm das Finale so gewünscht und war geknickt, als CR7 ausgeschieden ist.

Von dem WM-Trubel in der Glitzerwelt Dohas hat Rupal nichts mitbekommen. "Ist auch viel zu teuer." Hier und da hat er das Cricket Stadion für die Partien besucht, "aber oft fanden die Spiele zu spät statt". Der Nepalese arbeitet immer die Frühschicht und muss um 22 Uhr, dann, wenn die wichtigen Duelle für die Prime Time des europäischen Markts angepfiffen wurden, schlafen gehen. Das ginge vielen seiner Freunde auch so. Beim Halbfinale Frankreich gegen Marokko machte er eine Ausnahme. "Ich habe nur drei Stunden geschlafen", freut er sich diebisch. Er haust zu viert in einem kleinen Zimmer in Asian Town.

Ein Grauschleier über Asian Town

Mehr zum Thema

Als Marokko geschlagen ist und gegen den katarischen Schiedsrichter wütet, gehen die Lichter im Stadion aus. Eine indische Sängerin betritt mit ihrer wie eine Rockformation der 1970er-Jahre gekleideten Band die Bühne. In nur wenigen Minuten wird aus dem Cricket Stadium die größte Disco der Stadt. Überall tanzen sie zu den aufpeitschenden Klängen, lassen los und gehen im Moment auf. In diesen Augenblicken erhalten die, die in Katar keine Stimme haben, ihre Menschlichkeit zurück. Es ist einer dieser Widersprüche des Turniers. Auch Migratenarbeiter können lachen und lachen. Auch Migrantenarbeiter können tanzen - und das zeigen sie. Grautöne mischen sich in Katar überall in das Schwarz-Weiße der vorgefertigten Meinungen.

Hier in der Dunkelheit des Cricket Stadiums und nicht auf den künstlichen Unterhaltungsmeilen im Glitzerschein der Fassadenwelt Dohas spielt die andere WM. Sie wirkt echter, lebensfroher und ursprünglicher, und fußt doch auf einem der großen Missstände des Turniers. Am Ausgang legt einer der asiatischen Arbeiter seinen Arm um die Schulter eines anderen. Er trägt eine Katar-Trainingsjacke.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen