Fußball

Radikale DFB-Kehrtwende Acht Sekunden ändern alles, Nagelsmann gibt Tränen-Versprechen

Wirtz zog ab - und traf mitten in die Herzen der Fans.

Wirtz zog ab - und traf mitten in die Herzen der Fans.

(Foto: picture alliance / Pressebildagentur ULMER)

Das Jahr der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gleicht einer Achterbahnfahrt: Es gibt viele Hochs und Tiefs. Besonders im EM-Sommer findet das DFB-Team eine Grundlage, auf der sich auch in den kommenden Jahren arbeiten lässt.

Manchmal reichen schon acht Sekunden, um alles zu verändern. Im frühlingshaften Lyon, Ende März, gab es so einen Augenblick. Es dauert nicht lange, schon ist die deutsche Fußballwelt aus den Angeln gehoben. Die Fans im Groupama-Stadion haben sich gerade erst von der aufwendigen Lichtshow und der Pyrotechnik erholt. Die Hymnen sind verklungen, der Rauch weht noch immer durch die Arena. Niemand ahnt, was passieren würde. Das Spektakel setzt sich auf dem Rasen einfach fort.

Testspiel gegen Frankreich. Anstoß für das DFB-Team. Die Uhr tickt los. Kai Havertz spielt auf Toni Kroos. Der dreht sich einmal um sich selbst, gewinnt damit Zeit. Dann: Langer Ball auf Florian Wirtz. Und der? Dribbelt ein paar Schritte, die französischen Verteidiger greifen ihn nicht an. Wirtz zieht also einfach ab, der Ball schlägt im Tor ein. Ganze acht Sekunden dauert die einstudierte Anstoß-Variante. Das schnellste DFB-Tor der Geschichte obsiegt gegen alle Zweifel. Innerhalb von acht Sekunden streift die DFB-Elf den ganzen Ballast der vergangenen Jahre ab - und legt den Grundstein für alles, was im EM-Jahr noch kommen sollte.

Nur, niemand konnte damit rechnen. Vorab gab es keinerlei Hinweise auf das Blitztor und das, was folgen sollte. Kein vielsagender Spruch auf einer Pressekonferenz. Kein warnender Medienbericht. Nichts. Plötzlich gewinnt das DFB-Team mit 2:0 gegen Frankreich, gegen den Vizeweltmeister. Und das auch noch überzeugend. Einfach so. Dabei war die Erwartung eine völlig andere: Es war der erste Auftritt der schon wieder runderneuerten deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Der Härtetest wartete direkt zum Auftakt des Fußballjahres, in dem die Heim-EM stattfindet. Alle Parteien rührten die Werbetrommel, nur der entscheidende Akteur nicht. Anfang März ist die DFB-Elf noch ein Rätsel - schließlich hat sie in dieser Form noch nie zusammengespielt: Niemand weiß, ob das Konstrukt, das da auf dem französischen Rasen spielt, überhaupt funktioniert.

Der Tiefpunkt

Die Auftritte der DFB-Stars hatten vor Lyon wenig Explosives oder Überraschendes, meistens war es eher zäh. Unlängst war mit den DFB-Trikots auch ihre Erfolglosigkeit verknüpft - das Ende einer großen Fußballnation. Russland 2018 - das erste WM-Debakel, dank Gruppen-Aus. Dann eine okaye Corona-EM 2021, die im Achtelfinale endet. Dann Katar 2022 - das zweite WM-Debakel. Bundestrainer Joachim Löw war da schon lange weg, das Turnier schaute er alleine vor seinem Fernseher. In seinem Wohnzimmer sah er, wie sich sein Nachfolger Hans-Dieter, genannt Hansi, Flick nach und nach in seinen Experimenten verhedderte.

Und nun Julian Nagelsmann. Auch sein Projekt galt schon als gescheitert, nur vier Monate vor Lyon - da hatte er den Job gerade erst angetreten. Das DFB-Team verlor im November 2023 erst mit 2:3 gegen die Türkei und dann mit 0:2 in Wien gegen Österreich. Ausgerechnet Österreich! Schlimmer als das Ergebnis war die Art und Weise: Das DFB-Team war heillos unterlegen, Leroy Sané flog noch mit einer Roten Karte vom Platz. Viel tiefer ging es nicht mehr. Auch Nagelsmann begann, sich in Experimenten zu verlieren.

Mit der Niederlage gegen Österreich und großen Bauchschmerzen endete das desaströse Länderspieljahr 2023. Die schlimmste Quittung war, dass es den Menschen völlig egal war, was die DFB-Elf auf dem Rasen fabrizierte und wer da überhaupt am Werk war. Nagelsmann erzählte es in der Folge immer wieder: Die Nationalelf lag in Trümmern. Das galt nicht nur für die Spieler, sondern auch für die Menschen, die das Team jahrelang begleitet hatten. Diejenigen, die blieben, wenn die Bundestrainer wechselten: das sogenannte Team hinter dem Team.

Fast wie eine echte Fankurve

Der vergleichweise junge Bundestrainer musste also einmal mehr von vorn anfangen. All die Pläne, die Nagelsmann sich überlegt hatte, warf er über Bord. Keine komplizierten taktischen Anweisungen mehr, keine asymmetrischen Aufstellungen: Es sollte alles einfacher werden. Ein klares Rollenprinzip, wie er es nannte, hielt Einzug. Abgeschaut von den Basketball-Weltmeistern um Gordon Herbert: Es gab von nun an Worker und Zauberer.

Fast wie eine richtige Fankurve: UEFA-Protest beim DFB-Heimspiel gegen Bosnien-Herzegowina im Spätherbst.

Fast wie eine richtige Fankurve: UEFA-Protest beim DFB-Heimspiel gegen Bosnien-Herzegowina im Spätherbst.

(Foto: picture alliance / Peter Schatz)

Daraus entstand ein Gerüst rund um den von ihm zurückgeholten Mittelfeld-Dirigenten Kroos, das halten sollte und widerständig war. Die DFB-Elf lernte im Eiltempo dazu: Wie geht man mit einem Rückstand um? Wie absolviert man Spiele, wenn Gegner unangenehm zu bespielen sind? 2:1-Siege nach Rückständen gegen Griechenland und die Niederlande, ein 0:0 gegen die Ukraine: Vor der Heim-EM schuf man sich flugs das ganze Repertoire drauf. Und während des Turniers fügte sich alles: Spätestens der rauschende 5:1-Auftakt gegen Schottland nahm vielen Fans die schützende Distanz, die sich über die Jahre wegen all der Misserfolge aufgebaut hatte.

Die DFB-Elf entfachte etwas, was ihr kaum zuzutrauen war: Euphorie. So fühlte sich das alles rund um die Mannschaft an, während sie sich durch die EM-Gruppenphase spielte. "Major Tom" hob regelmäßig ab und der DFB half dabei kräftig mit: Schon im vergangenen November schaffte er den biederen und gesponsorten Fanklub-Nationalmannschaft ab, jede und jeder darf nun einen Fanklub gründen. Anschließend verkündete er auf unkonventionelle Weise den EM-Kader. Es wuchs ein ganz zartes Pflänzchen auf den Rängen, das am Ende des Länderspieljahres in Freiburg sogar gegen die UEFA protestierte. Fast wie eine richtige Fankurve.

Zwei Fehler: erst Nagelsmann, dann die UEFA

Im Gleichschritt entwickelte sich die Mannschaft. Nagelsmann überforderte sein Team nicht: Die Aufstellung blieb größtenteils gleich. Die Viererkette musste nur wegen Gelbsperren angepasst werden, vor ihr workte Robert Andrich und zauberte Toni Kroos. Sie waren die Vorarbeiter für das eigentliche Herzstück des DFB-Teams: das Trio um Jamal Musiala, Florian Wirtz und Kapitän İlkay Gündoğan. All das wuchs zusammen und funktionierte. Es trug die Nationalelf durchs Turnier: Gegen die Schweiz sorgte der eingewechselte Niclas Füllkrug für den Last-Minute-Ausgleich. Als dann im Dortmunder Westfalenstadion im Achtelfinale der Himmel aufbrach, ein Däne nur um Millimeter im Abseits stand, behielt das Team von Nagelsmann einen kühlen Kopf.

Ein Symbol des EM-Sommers: der Kult-Saxofonist André Schnura.

Ein Symbol des EM-Sommers: der Kult-Saxofonist André Schnura.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die DFB-Stars schwärmten vom Geist (neudeutsch: "Vibe"), der im Quartier in Herzogenaurach wuchs. So sehr, dass beim Auszug, so berichtete es der Trainer, auch Tränen fließen sollten. Denn auch dieser Tag musste kommen, früher, als es den DFB-Stars lieb war. Die Heim-EM endete im hochsommerlichen Stuttgart. Schon im Viertelfinale gegen Spanien, wenn man es objektiv betrachtet. Macht man es nicht, war es wenigstens der spätere Europameister. Auf der Pressetribüne wurden die Wasserflaschen knapp, auf dem Rasen beging Bundestrainer Nagelsmann einen folgenschweren Fehler: Er mutete der DFB-Elf zu viel zu. Statt Andrich stand plötzlich der nachnominierte Emre Can in der Startaufstellung. Der BVB-Kapitän wies zwar bessere Sprintwerte als Andrich auf, nur war er nie dort, wo die Mannschaft ihn brauchte.

Im Nachhinein sind die großen Linien immer leicht zu erkennen. Was wäre gewesen? Was, wenn der Bundestrainer nicht gezockt hätte? Wenn Andrich nicht erst zur Halbzeit gekommen wäre? Die Fragen stellt heute niemand mehr. Nagelsmann kann sich auch bei der UEFA und ihren Schiedsrichtern bedanken, die in der Verlängerung einen neuen Mythos der deutschen Länderspielgeschichte schafften: das Handspiel von Marc Cucurella im spanischen Strafraum, nach dem Schuss von Jamal Musiala. Der Atem stockte auf den Tribünen, offenbar auch beim Schiedsrichter: Seine Pfeife blieb stumm. Und so endete die EM-Party vorzeitig, mit 1:2 nach Verlängerung.

Der Vibe von Herzogenaurach

Doch, so kitschig das jetzt klingt, das Ende war auch ein Anfang. Etwas Neues ist entstanden, davon berichten die DFB-Stars: Sie reisen wieder gerne zur Nationalelf. Der Vibe aus dem EM-Quartier, aus Herzogenaurach, lebt weiter. Und das war auch das Fazit des Bundestrainers: Anders als im vergangenen November bei den Pleiten gegen die Türkei und Österreich sind diesmal alle DFB-Stars bei den Novemberspielen angereist, auch wenn sie angeschlagen waren.

Genau diesen Vibe muss der Bundestrainer auch konservieren, es wird nicht einfacher. Schließlich hatte er nach dem Viertelfinal-Aus nicht nur an den Zusammenhalt im Land appelliert, sondern, es floss auch in der Folge die ein oder andere Träne, ein Versprechen gegeben: "Dass man zwei Jahre warten muss, dass man Weltmeister wird, tut weh." Ein Bundestrainer, der so emotional auftritt, auch das ist neu.

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Das nimmt ihm aber nicht die Arbeit: Nach dem Kurz-Comeback von Kroos und dem Abschied von Kapitän Gündoğan muss ein neues zentrales Mittelfeld gebaut werden: vielleicht mit dem Stuttgarter Angelo Stiller, der dem FC Bayern immer zu langsam war; oder doch mit Aleksandar Pavlović, der bislang gerade einmal 28 Bundesliga-Spiele auf seinem Buckel hat. Oder vielleicht trägt das Duo um Andrich und Pascal Groß aber auch bis zur Weltmeisterschaft in anderthalb Jahren? Dazu schwelt noch eine Torwartdebatte: Was, wenn Marc-André ter Stegen nach seiner schweren Knieverletzung nicht zurückkehrt? Wer übernimmt dann: Alexander Nübel oder doch Oliver Baumann?

Es sind viele Fragen, die 2025 warten. Es hilft auch nicht, dass der Fußballkalender nochmals vollgestopfter ist, die Nationalmannschaften leisten ihren Beitrag. Zwar geht es erst im März weiter, dann wartet wieder ein Viertelfinale. Diesmal mit Hin- und Rückspiel gegen Italien in der Nations League. Danach könnte es in dem Wettbewerb noch ein Halbfinale und ein Endspiel geben - womöglich sogar in Deutschland. Ein Mini-Turnier, kein Jahr nach dem Aufflammen der Euphorie. Kurz darauf beginnt die Klub-Weltmeisterschaft in den USA. Eine Pause ist nicht in Sicht. Alles, was jetzt kommt, braucht mehr als acht Sekunden.

Quelle: ntv.de

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