Trainer-Chamäleon ersetzt Dardai Bobic verwandelt Hertha in gigantisches Rätsel
30.11.2021, 06:17 Uhr
Chaosforscher Bobic.
(Foto: picture alliance / nordphoto GmbH / Engler)
Nach einem 1:1 gegen Augsburg beurlaubt Hertha BSC die Klub-Ikone Dardai. Der Nachfolger heißt nicht Rangnick, nicht Tedesco, sondern Korkut. Der war lange aus dem Fußball-Geschäft raus. Hertha-Boss Bobic setzt großes Vertrauen in das Chamäleon aus Stuttgart.
Pal Dardai ist Geschichte. Seine zweite Amtszeit bei Hertha BSC dauert nur zehn Monate. Der immer noch neue Sportvorstand Fredi Bobic beurlaubt ihn am Montagmorgen. Zwei Tage nach einem Unentschieden gegen Augsburg, das Hertha weiter im unteren Tabellendrittel verharren lässt. Scheiterte Dardai in seiner ersten Hertha-Zeit meist in den Spielen, die die Alte Dame in Richtung internationale Ränge hätten bringen können, verharrt der Klub aus dem Westend nun schon seit viel zu langer Zeit im Keller der Fußball-Bundesliga. Trotz zahlreicher Abgänge im Sommer und eines erneuten Umbruchs im Kader.
Wie so oft in den letzten Jahren, in denen Hertha BSC immer häufiger Gefahr läuft, die ungeliebte Rolle des strauchelnden Traditionsvereins einzunehmen. Trotz gigantischer Geldflüsse des Investors Lars Windhorst und seiner Tennor-Gruppe. Der Absturz eines Groß-Vereins, genau wie der des Hamburger SV, wie der von Werder Bremen und wie der von FC Schalke 04.
Bei allen drei Vereinen wurde das jahrelange Siechtum der Klubs von einem lauten, ungläubigen Getöse der Fans anderer Vereine und der Medien unterfüttert. In ihrem Scheitern lag die Faszination. Mit der Notbremse will Bobic den Verein aus dem jahrelangen Chaos befreien und vor einem weiteren Sturz bewahren. Viel Luft ist nicht. Trotzdem ist es ein mutiger Schritt. Mit einem alten Bekannten an Bobics Seite: Tayfun Korkut, der sechste Trainer des Windhorst-Zeitalters, der zweite unter Bobic.
In Berlin hat niemand auf Korkut gewartet
Mit Vorschusslorbeeren wird er im Berliner Westend gewiss nicht empfangen. Zu wenig lässt sich über den Trainer Korkut überhaupt sagen. Er sei ein freundlicher Mensch, ein sympathischer und ein durchaus guter Coach mit ordentlich Sachverstand, heißt es über ihn. Kaum jemand verliert ein schlechtes Wort über Korkut. Warum das so ist, das zeigt auch sein erster, stiller und schüchterner Start bei Hertha BSC. Nicht ohne Charme.
Und mit der Gewissheit, einen Verein zu übernehmen, der "in keiner einfachen Situation, aber auch in keiner hoffnungslosen" steckt. Das sagt Hertha-Sportvorstand Fredi Bobic, der für diesen Überraschungs-Coup verantwortlich zeichnet und ihn an diesem Montag erklärt. Oder ihn zumindest in Worte packt. Kalt, wohlüberlegt und klar verabschiedet er sich höflich von Klub-Ikone Dardai, aber lässt keinen Zweifel daran, dass es jetzt eben vorbei ist.
Kurz vorher tritt Korkut gemeinsam mit dem Sportvorstand durch die Hintertür in den kleinen Medienraum - die Vordertür ist verschlossen - im Berliner Westend. Er setzt sich in die Mitte und hört erst einmal Bobic, der eine Lobeshymne auf ihn singt. "Tut gut, jetzt hier zu sein", sagt der 47-Jährige, der drei Jahre nach seiner letzten Station beim VfB Stuttgart zurück im Geschäft und "voller Energie" ist. In seiner Auszeit vom täglichen Geschäft habe er sich den Luxus gegönnt, Zeit mit seiner Familie zu verbringen. "Mir war nie langweilig", sagt Korkut. Er ergänzt: "Ich bin ein leidenschaftlicher Trainer."
Herthas ewiger Tanz am Abgrund
Beweisen konnte Korkut, der unter Joachim Löw in Istanbul spielte, dies bislang selten länger als zwei knappe Dutzend Spiele am Stück. Dann endete seine Zeit in Leverkusen, in Kaiserslautern und auch beim VfB, den er auf seiner letzten Station erst von Platz 14 in Richtung Europapokal führte, nur um dann in der folgenden Saison nach einer frühen Pokal-Pleite und einigen Liga-Spielen entlassen zu werden.
Nur in Hannover ging es länger. Nach Stuttgart: Familie, Luxus und immer wieder Fußball. International und Bundesliga. Immer wieder auch Gespräche mit Bobic, den er aus gemeinsamen Tagen in Schwaben kennt. Er als Jugendtrainer, Bobic als Sportchef. Gespräche, in denen sich letztendlich auch der neue Job herauskristallisiert. Überrascht, sagt Korkut, sei er über das Angebot nicht gewesen. Zu viel habe er schon erlebt im Trainergeschäft.
Jetzt also Hertha BSC, dieser unzähmbare Verein zwischen Größenwahn und Hauptstadtcharme, der der Liga in den letzten Jahren Geschichten für die Ewigkeit bescherte und den Fans immer wieder den Verstand raubte. Trainer kamen, Spieler kamen, Trainer gingen, Spieler gingen. Die Konstante: das Chaos und der Tanz am Abgrund. Noch frappierender und noch mehr in der Öffentlichkeit durch die souveräne Machtübernahme des Hauptstadtkonkurrenten Union, der dieser Tage zumindest sportlich vieles richtig macht.
Expedition ins Tierreich
Bei Hertha hingegen: Chaos und der Tanz am Abgrund. Wie in der vergangenen Saison und in der davor. Umbruch auf Umbruch. Spieler, die mit viel Geld an die Spree gelockt wurden und nichts mehr zeigten. Geld, das das Kernstück des Vereins, die Mannschaft, nicht besser, sondern schlechter gemacht hat. Eine Mannschaft, die in den letzten Monaten immerhin nicht auseinandergebrochen ist und in der bedauernswerten Bundesliga immer noch mitschwimmen kann. Mehr nicht. Die jetzt besser werden soll. Stufe um Stufe. Mit Hilfe aus dem Tierreich.
"Ein Stück weit muss man als Trainer zu einem Chamäleon werden", sagt Korkut an diesem Montag. Sein Plan für die ersten Wochen in Berlin: "Die einfachen Dinge außergewöhnlich gut machen" und "pragmatisch" an die Sachen herangehen. Wie immer, wenn ein neuer Job ruft. Die erste "Schnellanalyse" des Kaders ist erstellt. Der Abgleich mit der Realität und die Chamäleonwerdung beginnt an diesem Dienstag. Dann trifft er erstmals auf die Mannschaft, die von Bobic nicht im Vorfeld über die Entscheidung informiert war.
An der Grenze zwischen Chaos (Hertha) und Ordnung (Bobic) ist alles nur lose verbunden. Zu unterschiedlich sind die Interessen. Das Chaos zerrt an der Ordnung, gewinnt Überhand und verwirbelt die Dinge, die mal waren. Sie fetzen orientierungslos auseinander, formieren sich neu und gehen letztendlich irgendwann in eine neue Ordnung über. Das System hat sich angepasst, neu organisiert. Fredi Bobic steht lange an dieser Grenze. Als Beobachter.
Er wird zum Chaosforscher. Er schaut tief in den Verein hinein. In dem Chaos erkennt er alles, aber eben keine Muster, wie das eben so ist, wenn die Dinge außer Kontrolle geraten sind. Er sieht perfekte Spiele (gegen Frankfurt), leidenschaftliche Spiele (Gladbach), belanglose Spiele (viele, sehr viele) und solche mit tiefen, unermesslichen Abgründen - wie das desaströse Derby bei Union Berlin. Dem eigentlichen Endpunkt der Dardai-Zeit. Danach formt sich eine endgültige Entscheidung. Daran kann auch das Spiel gegen Augsburg nichts mehr ändern.
"Brauch gleich einen Drink"
Da kassiert Hertha mit der letzten Aktion des Spiels den Ausgleich. Wieder einmal spät, wie gegen Leverkusen. Vier verschenkte Punkte. "Hätten wir 1:0 gewonnen, wäre die Entscheidung genauso gefallen", sagt Bobic. "Es gibt Momente, da müssen Entscheidungen getroffen werden. Dieser Zeitpunkt war jetzt gekommen." Nach monatelangen Sticheleien zwischen Dardai, dem Ur-Berliner aus Ungarn, der Hertha erst Anfang des Jahres zum zweiten Mal übernommen hatte, die Liga hielt, eine Zigarre rauchte und doch nicht der Mann für die Zukunft war. Er blieb, weil es keine andere Lösung gab. Und er ertrug die ewigen Gerüchte um die Nachfolgersuche mal mehr und mal weniger gelassen.
Auch die ständigen Seitenhiebe des Investors Windhorsts dürften ihn auf Dauer zermürbt haben, noch verschlossener werden lassen. "Wow! Bin etwas geschockt grad und brauche gleich einen Drink", schrieb der nach der Niederlage in Leipzig und nach einem Treffen mit Fürst Albert von Monaco auf einer Luxusjacht im Mittelmeer in einem Whatsapp-Zirkel, berichtete die dpa damals. Der skurrile Investor und seine eigene Medienöffentlichkeit.
Der "kleine Pal" spürte, dass seine guten Jahre im Westend längst hinter ihm lagen und diesen Eindruck vermittelte er nicht nur in den Interviews, in denen er mit seinem Rücktritt kokettierte, sondern womöglich auch im Austausch mit der Mannschaft und der Klubführung, deutet Bobic an. "Wenn man Gespräche führt, dann weiß man: 'Okay, da kommt noch mehr, oder nichts mehr oder man wurschtelt sich so durch'", sagt Bobic, der nach dem Derby sah, dass nichts mehr kommt. Außer dem Ende und einem Übergang in eine neue Ordnung.
Erfahren hat davon niemand etwas. Bis zum Knall am Montag. Das sei selten bei Hertha, sagt Bobic, leise triumphierend. Ein kleiner Sieg. Auf den viele weitere folgen sollen. Auf dem Weg aus dem Chaos. In eine neue Ordnung. Mit seinem alten Bekannten Korkut. Zumindest bis zum Saisonende. Das wäre ein Erfolg. Vorerst bleibt Hertha ein gigantisches Rätsel.
Quelle: ntv.de