Fußball

Andrich fegt große Namen weg Der größte Gewinner von Nagelsmanns neuem Plan

Im Höhenflug: Robert Andrich.

Im Höhenflug: Robert Andrich.

(Foto: IMAGO/Eibner)

Der 2:0-Sieg gegen Frankreich hallt nach und sorgt für große Erleichterung und Begeisterung. Julian Nagelsmann und sein DFB-Team genießen die Auferstehung. Die gelang auch wegen der rigorosen Umbauarbeiten des Bundestrainers.

Bundestrainer Julian Nagelsmann hat aufgeräumt. Joshua Kimmich hat er nach rechts hinten geschickt. Leon Goretzka hat er gar nicht mehr eingeladen. Den einst erfolgreichen Maschinenraum des FC Bayern hat er in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft außer Dienst gestellt. Auch İlkay Gündoğan, in der vergangenen Saison noch der Taktgeber der weltbesten Mannschaft, Manchester City war das, wurde aus der Zentrale gefegt. Ihn wirbelte der Staub des Nagelsmann'schen Besens ein paar Meter weiter nach vorne. Er ist jetzt der Zehner im DFB-Team. Den aufgeräumten Raum hat Nagelsmann aber nicht leer gelassen. Er hat ihn neu eingerichtet. Und vor nicht einmal vier Monaten wäre wohl niemand daraufgekommen, dass der Bolide Nationalmannschaft mit Toni Kroos und Robert Andrich als Duo auf die Straße zur Heim-Europameisterschaft einbiegt.

Und er kommt mit überraschend viel Tempo um die Ecke Richtung Frankfurt gerauscht. Aus der Rhône-Alpes-Region, wo sich am vergangenen Samstag Erstaunliches ereignet hatte. Die deutsche Nationalmannschaft erhob sich aus dem Tief der gefühlten Ewigkeiten und fegte über Frankreich hinweg. An Superlativen mangelte es nicht. In den Chroniken wurde gewühlt, wann das DFB-Team zuletzt so gut gespielt hatte. Bis 2016 blätterten einige zurück, vergaßen dabei womöglich den Confederations Cup ein Jahr später (2017), in dem Deutschland mitriss, Bundestrainer Joachim Löw aber vergaß, den Gewinn des unbedeutenden Turniers abzuschöpfen. In Frankreich nun schöpfte Löws Nach-Nachfolger, wenn man Interimsmann Rudi Völler herausrechnet, den süßen Nektar seiner eigenen Radikalität ab. Jeder einzelne Spieler hatte für sich geworben, für einen Stammplatz bei der EM.

Und weil Nagelsmann das auch so sah, dürfen sich die Frankreich-Gewinner auch im zweiten Härtetest gegen die Niederlande in eben Frankfurt wieder von Anfang an beweisen, also auch Kroos (keine Überraschung) und Andrich. Ob es nun tatsächlich eine Überraschung ist, dass der Leverkusener abermals den Türsteher an der Seite des neuen alten Discjockeys im deutschen Mittelfeld geben darf? Die einen sagen so, die anderen so. Andrich ist noch immer einer der weniger bekannten Männer im Team. Auch wenn er Kylian Mbappé, einen potenziellen Weltfußballer, in Lyon amtlich weggestempelt und sich damit mal kurz auf der Weltbühne des Fußballs angemeldet hatte. Im immerhin schon fortgeschrittenen Alter von 29 Jahren. Dass so einer jetzt eine tragende Rolle spielt im Konzert jener, die auf Vereinsebene schon schwer abkassiert haben, ja, das ist eine Überraschung.

Mix aus Zauberern, Taktgebern und Malochern

Weil Andrich aber spielt, wie er spielt, weil er auch mal die dreckige Seite bedient, bringt er unverzichtbare Dinge für den neuen Ansatz des Bundestrainers mit. Der setzt nicht mehr auf die großen Namen oder die gelebte Praxis, dass Spieler dabei sind, weil sie das eben immer schon waren, sondern er sucht den perfekten Mix aus Zauberern, Taktgebern und Malochern. Diese Komponente ging dem DFB-Team zuletzt spürbar ab. Aber der gebürtige Potsdamer ist nicht nur der bissige Kettenhund, Andrich kann schon auch ziemlich gut Fußball spielen. Das darf er gerne tun, muss er aber nicht zwingend. Weil er eben Kroos an seiner Seite hat.

Dieses Mal den großen (Pardon, Felix Kroos! - der war bei Union einst sein Kollege). Den, der bei Real Madrid für den unerschütterlichen Heldenfußball steht. Der nicht in jedem Spiel nachweisen muss, was für ein Genie er ist, sondern der gut temperieren kann, wann es große Momente braucht. Gegen Frankreich hatte er dieses Gefühl mit dem ersten Ballkontakt und auch danach ziemlich häufig. Er hatte sehr genau verstanden, dass er vielleicht die letzte Hoffnung auf ein bisschen Euphorie vor der Heim-EM ist. Und Kroos konnte schalten, walten, glänzen, weil neben ihm einer aufräumte: Andrich eben. "Meine Rolle soll schon die sein, dass ich der Mannschaft eine gewisse Stabilität und Sicherheit gebe. Ich versuche, Toni den Rücken freizuhalten", erklärte der Spätstarter die Rolle vor seinem erst dritten Länderspiel an diesem Dienstagabend (20.45 Uhr bei RTL und im ntv.de-Liveticker).

Das mit den Rollen, das ist ja so eine Sache in der neuen Nationalmannschaft. Nagelsmann hat nach dem erschütternden November-Doppelpack gegen die Türkei und gegen Österreich alles noch einmal durchdacht und sich eine neue Radikalität angeeignet. Er nimmt keine Rücksicht mehr auf irgendwelche Befindlichkeiten. Der Auftrag ist der Erfolg im Sommer. Und so passt er seinen Plan an, definiert Rollen, definiert Stammkräfte und Herausforderer. Weil manchen Typen weder in das eine noch in das andere Schema passen, werden sie die Europameisterschaft verpassen. Auch verdiente Kräfte sind dabei. Nicht so Kroos, der Chef. Nicht so Andrich, sein wichtiger Wingman.

Der lange Weg nach oben

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In einer persönlich eher unruhigen Saison mit Bayer, wo er zwischen gesetzter Kraft und Ersatzbank pendelt, erlebt er die vermutlich beste Zeit seines Lebens. Leverkusen räumt alles ab, was geht. In der Bundesliga liegt die Mannschaft von Xabi Alonso meilenweit vor dem FC Bayern, im Pokal ist Bayer Topfavorit und in der Europa League ist der große Wurf auch noch möglich. Und plötzlich scheint das auch mit der Nationalmannschaft wieder möglich. Auch wenn allerorts zu hören ist, dass ein Spiel noch keinen Sommer macht. Aber die Energie ist zurück, entfacht von Typen wie Andrich. Einen klassischen Sechser, den wird es bei der Europameisterschaft geben. Auch wenn ja längst nicht mehr klar definiert ist, was ein klassischer Sechser ist. Thomas Tuchel und Joshua Kimmich waren darüber im vergangenen Sommer beim FC Bayern ja durchaus anderer Meinung.

Nagelsmann hat die Frage für sich beantwortet. "Worker" sucht er. Und die Biografie von Andrich liest sich wie die perfekte Anleitung dafür. Und der Gegenentwurf vom Kroos-Weg, dessen Weltkarriere schon beim Debüt für den FC Bayern mit 17 vorgezeichnet schien. Andrich dagegen ist ein Burger-Fan mit Gladiatorenfrisur und einem ungezügelten Wikingerbart, der sich über Hertha BSC, Dynamo Dresden, Wehen-Wiesbaden und Union Berlin zu Bayer Leverkusen hochgearbeitet hat. Dabei gibt er ohne jede Scham zu, dass er nicht mehr der professionellste Spieler war. Noch zu Wehener Zeiten sei er "viel zu viel nach null Uhr" unterwegs gewesen ist. Erst seine Ehefrau Alicia habe ihn diesbezüglich "eingefangen". Noch immer kommt ihm sein Fußballer-Leben manchmal vor wie ein Traum. "Es gibt Momente, in denen du sagst: Boah, geil", meinte er. Im Sommer könnte es viele davon geben.

Quelle: ntv.de

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