Am heiligen Ort des FC Bayern Die kaum wahrgenommene Stärke des Thomas Tuchel
25.12.2023, 07:40 Uhr
Müller und Tuchel - sie arbeiten friedlich miteinander.
(Foto: IMAGO/Sven Simon)
Das Jahr des FC Bayern ist turbulent. Erst auf den letzten Metern gelingt es dem Klub, seine innere Ruhe zu finden. Das liegt an einer kaum wahrgenommenen Stärke von Trainer Thomas Tuchel - und an Joker Thomas Müller.
Wenn es Thomas Müller gut geht, dann geht es auch dem FC Bayern gut. Diese Regel hat weiterhin Bestand, auch wenn eine andere längst außer Kraft gesetzt worden ist. Nämlich die, dass Müller immer spielt. Formuliert worden war sie einst von Louis van Gaal, dem niederländischen Feierbiest. Van Gaal ist längst Geschichte in München, Müller weiterhin die Gegenwart. Und ein bisschen noch die Zukunft. Bis 2025 wurde sein Vertrag kurz vor Weihnachten verlängert. Und das, obwohl der Müllerthomas nicht mehr erste Wahl ist, aber eben wie "die Frauenkirche zu München gehört", wie der beseelte Klubboss Herbert Hainer wissen ließ.
Dass der FC Bayern in ein ruhiges Weihnachtsfest eingetrudelt ist, mit souveränen Siegen gegen Manchester United, dem Bundesliga-Überraschungsteam VfB Stuttgart und beim VfL Wolfsburg, lässt sich an kaum einem Spieler besser erzählen, als an dem 34-Jährigen, der so gerne mehr spielen würde, seine Rolle aber ohne öffentliches Klagen akzeptiert. Nur vereinzelt lässt er mal anklingen, dass er seinen Trainer gerne häufiger überzeugt hätte, ihn von Beginn an spielen zu lassen. Dieser Trainer heißt Thomas Tuchel und der ist einer, der sich von öffentlichen Debatten so gar nicht treiben lässt. Sein Weg ist sein Weg, empfohlene Abbiegungen ignoriert er. Wenn er den gewählten Pfad verlässt, dann nur aus innerer Überzeugung. Dass er dabei immer wieder kleine Feuer legt, das interessiert ihn nur dann, wenn die ganz großen Löschzüge anrücken.
Die Kabine ist wieder geschlossen
Im Spätsommer war es so weit, die Bosse hatten genug. Sie pfiffen Tuchel zurück, sie hatten genug von dem ständigen Klagen über den zu dünnen Kader. Selbst der wieder mächtige Patron Uli Hoeneß hatte sich vom Tegernsee gemeldet und gefunkt, dass das nicht sonderlich clever gewesen sei. Sonst aber ließen sie Tuchel machen. Und sangen ihm bei jeder Gelegenheit eine Hymne. Der kämpfte in ganz kleinen Schritten darum, die Mannschaft widerstandsfähiger zu machen, sie besser auszubalancieren. Und er tat das zumeist ohne den mächtigen Müller.
Als er sogar Eric Maxim Choupo-Moting vorzog, drohte das Thema Müller die große Wucht zu entfachen. Wie einst bei Ex-Trainer Niko Kovač, der in der Ikone nur noch einen Notnagel sah und darüber stolperte. Er hatte die Rolle der Ikone schlecht moderiert, dessen Macht unterschätzt. Tuchel macht das anders. Er lobt, verspricht aber nichts. So blieb die sich auftürmende Thomas-Müller-Welle eine mediale. Eine, die keinen Weg fand, ins Festungsinnere der Münchner zu klatschen.
Und auch unter Julian Nagelsmann, der den FC Bayern in eine neue Ära hätte führen sollte, ehe er nach knapp zwei Jahren viel zu früh (gemessen an den gemeinsamen Zielen) gehen musste, war Müller ein großes Thema. Sein Verhältnis zum Coach galt als belastet, auch unter dem jungen Chef musste der alte Stürmer um einen Platz kämpfen, mehr, als es seinem Selbstverständnis entspricht. Überhaupt spielte die Musik abseits des Platzes unter Nagelsmann viel zu laut. Da war der Larifari Leroy Sané, der es mit der Disziplin wohl nicht so genau nahm. Da war Serge Gnabry, der mal eben zu einer Modenschau nach Paris flog. Und da war der alles überstrahlende Fall Manuel Neuer mit all seinen Folgen - inklusive der Entlassung des Torwarttrainerkumpels Toni Tapalovic und dem Wut-Interview.
All diese kleinen Krisenherde hat Tuchel einkassiert. Unter seiner Regie ist es um das Team sehr ruhig geworden. Die Kabine, die hat er offenbar im Griff. Die Kabine, die er so sehr liebt, wie er nach seinem ersten Spiel in München erzählt hatte. Wie er so sprach, ernannte er sie zu einem heiligen Ort, dessen Schutz er zur obersten Trainerpflicht machte. In all den Turbulenzen geht fast unter, dass die Mannschaft den inneren Tuchel in sich verinnerlicht hat. Kein Gemoser dringt nach außen, keine Gemecker. Auch die Maulwürfe, die das Werk von Nagelsmann fleißig untergraben hatten, stoßen mit ihren Nasen auf Münchner Granit. Tuchel hatte Hoeneß vor seinem Amtsantritt in einem persönlichen Gespräch versprochen, auf den FC Bayern aufzupassen. Er hält Wort.
Tuchel rupft die Experten
Nur die propalästinensischen Postings des Marokkaners Noussair Mazraoui sorgten für Wirbel, mehr von außen indes als von innen. Es war allerdings eine aufwühlende Zeit, in der nichts unter Kontrolle zu bekommen war. Nicht für einen Trainer. Der steht beim FC Bayern indes von Beginn an im Sturm. Mit seinen Klagen über den Kader, mit seinen Aufstellungen und (Nicht)-Einwechslungen. Er fing alles ein und ab, ließ nichts in die Kabine hinein und nur selten was auf seine Spieler kommen. Den wild ausufernden und absurden Expertenstreit mit Dietmar Hamann und Lothar Matthäus ließ er eskalieren, die Chef-Kritiker der Nation hatten dem FC Bayern unter Tuchel vorgeworfen, nicht mehr souverän, nicht mehr stabil, schon gar nicht mehr dominant zu sein.
Tuchel schäumt vor Wut, knöpfte sich die Experten mehrfach vor, agierte dabei auch von oben herab, schlug jedes Versöhnungsangebot aus - und bestimmte die Schlagzeilen. Um den Kern der Sache ging es nicht mehr, nur noch um die Art und Weise. Diese Ablenkungsmanöver beherrschte in München sonst nur ein ganz Großer, der Größte überhaupt im Verein: Uli Hoeneß. Vielleicht auch deshalb sind der Trainer und der Patriarch auf einer Ebene verbunden, die sie als Alphatiere in zielführender Koexistenz leben lässt.
Die Experten liegen ja nicht falsch
Dabei ist längst nicht falsch, was Matthäus und Hamann immer wieder und immer vehementer betont hatten. Die Pokal-Blamage in Saarbrücken oder das 1:5 in Frankfurt waren Rückfälle in längst überwunden geglaubte Zeiten an der Säbener Straße. Andere Spiele wurden gewonnen, aufgrund individueller Klasse und nicht dank eines überragenden und bestens funktionierenden Kollektivs. Die zum Ende der Ära Nagelsmann und unter der Führung der auf skurrile Weise entlassenen Ex-Bosse Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić völlig verunsicherten Münchner hatten sich selbst verloren - und am 34. Spieltag urplötzlich wiedergefunden, als ihnen der panische BVB aus der Ferne den Titel schenkte. Auf dem Platz waren die Münchner ein Ensemble ohne Struktur, ihnen fehlte Führung, Hierarchie. Die gab es auch oben nicht mehr. Kahn und Salihamidžić hatten den Klub kommunikativ ins Chaos geführt. Bei wichtigen Themen duckten sie sich weg oder fanden nicht die richtigen Worte.
Die erschütterten Alphatiere Hoeneß und Rummenigge übernahmen ab Sommer und bauten zusammen, was ihre Nachfolger kaputt geschlagen hatten. Das brauchte Zeit. Und ökonomisch eine historische Entscheidung. Mit Stürmer Harry Kane wurde erstmals die 100-Millionen-Euro-Schallmauer durchbrochen, obwohl Hoeneß das lange ausgeschlossen hatte. Aber der Mut zahlte sich aus, der englische Nationalmannschafts-Kapitän rettete dem FC Bayern mit seinen bislang 21 Ligatoren zahlreiche Punkte und überstrahlte manch eine Leistung, die man sich in München in anderen Zeiten nur schwer verziehen hätte.
Auch Tuchel brauchte Zeit, um seine Ideen und das vorhandene Personal, was ja einen echten Sechser nach seiner Version nicht hergibt, zusammenzubringen. Kane traf, (manchmal auch Mathys Tel), Sané glänzte, Jamal Musiala zauberte, dieser große Dreiklang trug die Münchner durch die ersten Wackel-Wochen der Saison, das Konstrukt drumherum fügte sich nur langsam zusammen. Ohne Müller, mit einer Abwehr auf der Suche nach Souveränität und einem Joshua Kimmich, der nicht immer sein konnte, der er sein möchte. Noch ist der FC Bayern längst nicht wieder das allesfressende "Mia san mia"-Monster der vergangenen Dekade, Weihnachtsmeister ist Bayer 04 Leverkusen. Doch die Dinge fügen sich, dank Müller, wegen Tuchel. Er hatte Uli Hoeneß das versprochen.
Quelle: ntv.de