"Einfach lächerlich" Das unbegreifliche Real Madrid stirbt nie
09.05.2024, 09:37 Uhr
Doppelpacker, Matchwinner, Held: Joselu.
(Foto: REUTERS)
Real Madrid stürmt ins Endspiel der Champions League. Binnen vier Minuten drehen die Königlichen das Halbfinal-Rückspiel gegen den FC Bayern und spielen dabei ihre besondere Qualität aus. Jeder weiß um die Unberechenbarkeit und niemand kann etwas dagegen tun.
Joselu, ja genau, der Joselu, der einst in der Fußball-Bundesliga gespielt hatte, fiel am späten Mittwochabend auf den Rasen des mythischen Fußballtempels Estadio Santiago Bernabéu und weinte. Er hatte keine Kontrolle mehr über seine Emotionen, über sein Glück. Der 34-Jährige war der zuvor vermutlich unwahrscheinlichste Held, zu viele andere Protagonisten standen sich im zweiten Duell der Giganten Real Madrid und FC Bayern gegenüber. Aufseiten der Königlichen etwa Vinicius Junior, Rodrygo, Jude Bellingham oder Toni Kroos. Auf den Seiten der Münchner etwa Harry Kane, Leroy Sané oder Jamal Musiala. Aber dann kam eben Joselu und schlug zu.
Madrid: Lunin - Carvajal, Rüdiger, Nacho, Mendy - Tchouameni (69. Camavinga), Kroos (69. Modric) - Valverde (81. Joselu), Bellingham, (90.+10 Militao) Rodrygo (81. Diaz) - Vinicius; Trainer: Ancelotti
München: Neuer - Kimmich, Dier, de Ligt, Mazraoui - Pavlovic, Laimer - Sané (76. Kim), Musiala (85. Müller), Gnabry (27. Davies) - Kane (85. Choupo-Moting); Trainer: Tuchel
Schiedsrichter: Szymon Marciniak (Polen)
Tore: 0:1 Davies (68.), 1:1 Joselu (88.), 2:1 Joselu (90.+2)
Gelbe Karten: Camavinga -
Zuschauer: 80.000 (ausverkauft)
Der Mittelstürmer tat in der 88. Minute und in der zweiten Minute der Nachspielzeit Mittelstürmerdinge. Erst erschnupperte er einen Fehler des zuvor herausragenden Torwarts Manuel Neuer und schlug eiskalt zu, dann stand er da, wo er qua Amt zu stehen hat und erzielte das 2:1. Das war der Siegtreffer für Real Madrid, das in den Minuten zuvor wieder einmal mit mindestens einem Bein über dem Abgrund getänzelt war. Ein erneuter Einzug ins Finale der Champions League (Hinspiel 2:2), er hatte sich nicht (mehr) zwingend angedeutet. Die "Königlichen" waren das bessere Team, rannten wütend und immer wütender an, scheiterten aber allzu oft an Neuer und lagen durch ein Traumtor von Alphonso Davies zurück.
"Es ist das endlose Epos"
Doch dann schlug der Mythos zu. Der Mythos Real Madrid. Der Mythos Bernabeu. Jeder weiß es, doch kaum jemand weiß etwas dagegen zu tun. Die spanische Zeitung "AS" staunte: "Das ewige Wunder. Madrid schafft es wieder. Es ist das endlose Epos. Was nach dem Rückstand geschah, ist die Geschichte des Bernabeu." Und die besondere Geschichte von Joselu, der im vergangenen Sommer zu seinem Ex-Klub heimgekehrt war, für den er das erste Spiel seiner Profikarriere bestritten hatte, und bei dem er den Platz vor Karim Benzema einnahm. Was für eine Aufgabe! Der Weltfußballer war weitergezogen, nach Saudi-Arabien. Und soll dort unglücklich sein.
Und Joselu war natürlich nicht als Stammkraft eingeplant, nicht als Eins-zu-eins-Ersatz. Vielmehr rückte der kaum kontrollierbare Brasilianer Vinicius Junior häufiger vom Flügel ins Zentrum. Oder aber Bellingham stieß aus dem offensiven Zentrum in die vorderste Position. Aber als Joker war der 34-Jährige wichtig - und Gold wert. "Nicht einmal in meinen schönsten Träumen habe ich mir so etwas ausgemalt", sagte der ehemalige Stürmer der Hoffenheimer, Frankfurter und Hannoveraner nach seinem späten Doppelpack. "Ich weiß nicht, ob ich ein Held bin, aber ich bin sehr glücklich. Es war unglaublich, etwas Spektakuläres." Beim ersten Treffer sei es noch darum gegangen, "smart zu sein", sagte Joselu. "Sie waren müde, in einem tiefen Block, das konnte man sehen."
"Gebetet, dass es nicht aberkannt wird"
Der zweite Treffer wurde zunächst wegen Abseits zurückgepfiffen, nach Überprüfung der Video-Bilder aber doch noch gegeben. "Ich habe gebetet, dass es nicht aberkannt wird", sagte Joselu und lobte seine Teamkollegen, die wieder einmal ihre besondere Qualität ausgespielt hatten. Nicht bloß sportlich, sondern vor allem mental. "Sie geben niemals auf, es liegt ihnen im Blut, bis zum Ende zu kämpfen." Und dabei half ihnen dann auch das Glück des Tüchtigen. Oder des übereifrigen Schiedsrichters? Der den Ausgleich des FC Bayern wegen einer Abseitsentscheidung des Linienrichters zu früh abgepfiffen hatte. Was die Münchner in den Wahnsinn trieb. Und auch den britischen "Guardian": "Einfach lächerlich. Einfach Real Madrid. Das Team, das diesen Wettbewerb zu beherrschen scheint, das einen mystischen Einfluss darauf hat und den Pokal 14 Mal in die Höhe gehalten hat, ist wieder im Finale, weil, nun ja, weil das eben so ist."
Glücklich, klar, aber vor allem war dieser Sieg erzwungen. Herbeigepowert durch den Ruf, den sich dieses Team über Jahre erworben hat. "Sie können dir in jeder Sekunde wehtun", hatte Bayerns Starstürmer Harry Kane vor dem Spiel gewarnt. Schließlich, ergänzte Abräumer Konrad Laimer, warte "die unberechenbarste Mannschaft der Welt - ein absolutes Phänomen". Nur ein Moment der Unachtsamkeit, ein einziger Fehler - und alle Hoffnung könne dahin sein. Neuer machte ihn, der FC Bayern krachte auf der "Road to Wembley" in die Leitplanke. "Das sind unsere unkontrollierbaren Minuten, für die wir bekannt sind", sagte Kroos in aller Gelassenheit bei DAZN.
Diese Mannschaft lässt sich durch nichts erschüttern. Egal zu welcher Zeit. So wie vor ziemlich genau zwei Jahren, als Rodrygo (doppelt) und Benzema im Halbfinal-Rückspiel gegen Manchester City drei Tore erzielten, ab der 90. Minute. Real ist eben Real. Oder "Real stirbt nie", so sagte es Tuchel. Die Zeitung "El País" konnte es kaum fassen: "Wieder der tote Mann, der inmitten des kollektiven Deliriums des Bernabéu aus der anderen Welt aufersteht."
Ancelotti überrascht von seinem Kader
Und die Königlichen selbst tun sich schwer damit, zu begreifen, was sie da wieder angestellt hatten. Trainer Carlo Ancelotti, wie immer die Ruhe selbst, befand: "Es ist schon so oft passiert, und es ist wieder passiert. Das ist etwas Unerklärliches. Das ist magisch." Und tief verankert in diesem Klub. Jeder Spieler, der kommt, wird infiziert mit dem königlichen Virus. "Ich muss den Fans, dem Klub und den Spielern danken, die eine Saison gespielt haben, die niemand erwartet hat. Ich auch nicht, ich hatte nicht erwartet, dass dieser Kader in der Lage wäre, das zu tun, was er bis hierhin getan hat." Und noch weiter tun soll. In Wembley ist Real der Favorit. "Das nehmen wir an, da haben wir auch kein Problem mit. Ich bin überzeugt, dass wir dem gerecht werden", sagte Kroos, der am Mittwochabend nicht wie gewohnt dominierte und in der 69. Minute ausgewechselt wurde. Für ihn kam Luka Modrić. Legende für Legende, auch das ist Madrid.
Real greift nach dem 15. Henkelpott der Vereinsgeschichte, für Kroos wäre es der sechste Titel. Der BVB hat bislang nur 1997 gewonnen. "Ich hoffe, dass die mit uns ein bisschen weniger machen und wir den Vorteil Erfahrung mitbringen und dann auch das Ding holen", sagte Kroos und ergänzte: "Aber das ist jetzt keine Kampfansage. Dass wir das gewinnen wollen, ist klar."
Quelle: ntv.de