
Völlige Ernüchterung.
(Foto: picture alliance / kolbert-press)
Manuel Neuer, immer wieder der Bayern-Keeper. Er ist für die Offensivstars von Real Madrid nicht zu überwinden. Bis zur 88. Minute des Halbfinal-Rückspiels der Champions League, als er nicht richtig zupackt. Den FC Bayern kostet dieser Fehler das Finale - und erzeugt gleich mehrere Flashbacks in die Fußball-Historie.
Oliver Kahn hatte es sich ganz gemütlich gemacht. Oben auf der Tribüne des Estadio Santiago Bernabéu. Dem Fußball-Tempel von Real Madrid. Halbfinal-Rückspiel in der Champions League. Real Madrid gegen FC Bayern. Das Hinspiel in München war 2:2 geendet, diese Begegnung muss also einen Sieger hervorbringen, spätestens im Elfmeterschießen. Wer wird der Gegner von Borussia Dortmund im Finale am 1. Juni im Wembley-Stadion?
Mit einem Bier in der Hand hatte Kahn sich auf seinen Sitzplatz vorgearbeitet, vorbei an Brasiliens Fußball-Ikone Roberto Carlos, Formel-1-Fahrer Fernando Alonso und Raúl. Natürlich war der Spanier aufgrund seiner Real-Vergangenheit als langjähriger Kapitän und Rekordspieler geladen. Von Gastgeber Real Madrid. Genauso wie die anderen Gäste der Ehrenloge und auch Kahn, obwohl der ja gar keine Real-Vergangenheit hat.
Erstmals sah er so seit seinem Rauswurf im Mai 2023 beim FC Bayern wieder ein Spiel des Ex-Klubs. Vor fast einem Jahr war er Knall auf Fall als Vorstandsvorsitzender entlassen worden. Es gab bekanntlich sogar Befürchtungen, er könnte am letzten Spieltag der Saison für Ärger sorgen, weswegen er zur Partie gegen den 1. FC Köln nicht anreiste. Die elfte Deutsche Meisterschaft in Folge feierten die Münchner ohne ihn. Die große Liebe zwischen dem langjährigen Erfolgsgaranten im Tor und seinem FC Bayern war erloschen, es folgten gegenseitige Vorwürfe und Kritik.
Aber ein Funken Liebe glimmt doch noch: "Ich bin immer noch sehr involviert in die Welt des Fußballs, und weil mein Herz für den FC Bayern schlägt, freue ich mich darauf, heute Abend ein großes Spiel zu besuchen", schrieb er nun vor dem Spiel auf X. Und er sollte ein großes Spiel zu sehen bekommen. Eines, das dann spät noch eine unliebsame Erinnerung bei Kahn - und allen anderen im Stadion sowie an den Fernsehern - weckte. Hoffentlich hat er sich da nicht an seinem Bier verschluckt.
Neuer entnervt die Real-Offensive
Zunächst einmal ging ja alles recht gut los. Real Madrid spielte zwar dominant auf, das Team von Thomas Tuchel war in die Defensive gedrängt, agierte selbst harmlos und zaghaft. Doch ein Tor kassierte es nicht. Spätestens an Manuel Neuer war kein Vorbeikommen. Vor den Augen des Titans packte der 38-Jährige ein ums andere Mal Weltklasse zu. Schon früh musste er hellwach sein, in der 13. Minute bereits zog Vinicius Junior ab, Neuer berührte den Ball mit den Fingerspitzen, der knallte gegen den linken Pfosten. Der Ball prallte zu Rodrygo, wieder war Neuer zur Stelle. In der 40. Minute verhinderte der Mann, dem nach seiner schweren Beinverletzung kaum noch jemand die alte Klasse zugetraut hatte, schon wieder den Rückstand. Eine vermeintliche Flanke von Vinicius Junior von der linken Strafraumecke geriet zum gefährlichen Torschuss, aber Neuer sprang hinterher und hatte seine linke Hand rechtzeitig am Ball. Die "Bild"-Zeitung zählte gleich sechs Paraden mit dem Prädikat Weltklasse.
Und auf der anderen Seite traf in der 68. Minute aus dem Nichts Alphonso Davies. Der pfeilschnelle Kanadier war bereits in der 27. Minute für den erneut am Oberschenkel verletzten Serge Gnabry eingewechselt worden. Er hatte bei dem Tausch von Tuchel den Vorzug vor Thomas Müller erhalten. Es sollte sich gut 40 Minuten später auszahlen. Nach einem Konter setzte er sich im Duell mit DFB-Verteidiger Antonio Rüdiger durch und schlenzte den Ball ins lange Eck. Führung FC Bayern - die Tür zum Finale weit aufgestoßen.
"Das ist das 10.001. Mal"
Wäre da nicht diese vermaledeite 88. Minute gewesen. "Von 10.000 Mal hält Manu den Ball 10.000 Mal. Das ist das 10.001. Mal", sagte Tuchel. "Das ist ausgeschlossen, dass Manu einen Fehler macht. Und er macht ihn ausgerechnet heute nach dem Weltklassespiel. Das ist sowas von bitter." Denn plötzlich stand es 1:1. Vinicius Junior schoss mit rechts - eigentlich total ungefährlich -, Neuer sprang der Ball aus den Armen. Der Ex-Hannoveraner, Ex-Frankfurter und Ex-Hoffenheimer Joselu war als Erster dran und drückte den Ball über die Linie. "Ich muss sagen, dass ich den Ball anders erwartet habe, eher Richtung Brustkorb. Der ist dann einen Tick höher gegangen und damit habe ich nicht gerechnet, dass da ein minimaler Maulwurf drin war in dem Platz", sagte Neuer beim DAZN. "Dieses 1:1 ist brutal." Fand auch Müller bei ServusTV: "Der Ball springt ein bissl blöd, Manu bekommt ihn ans Kinn, den Rest haben wir gesehen."
Auch Kahn sah den folgenschweren Fauxpas natürlich oben auf seinem Logenplatz. Wie alle anderen dürfte er sich an 2002 erinnert gefühlt haben. Bei der WM in Japan und Südkorea war er der beste Torhüter des Turniers. Er hatte schier unhaltbare Bälle vor dem Einschlag ins Netz gestoppt, er hatte das DFB-Team ins Finale pariert. Um dann ausgerechnet im Endspiel gegen Brasilien den entscheidenden Fehler zu begehen. Er hatte einen harmlosen Schuss von Rivaldo abprallen lassen, Ronaldo schob ihn zur 1:0-Führung ein. Der Endstand hieß dann 2:0, Weltmeister Brasilien.
Die Vibes von 1999
Und auch Real Madrid legte 22 Jahre später entscheidend nach. Wieder Joselu, angespielt von Rüdiger. 2:1 in der 90.+2. Minute. Ein später Doppelschlag - und schon wieder ein unschönes Déjà-vu. Diesmal direkt für den FC Bayern, nicht nur für Kahn in seiner Rolle beim DFB-Team. Im Champions-League-Finale 1999 gegen Manchester United kassierten die Münchner zwei Tore in der Nachspielzeit. Es gibt die Geschichte von Tennis-Legende Boris Becker, wie er mit Franz Beckenbauer und dem damaligen UEFA-Präsidenten Lennart Johansson in einen Fahrstuhl im Camp Nou in Barcelona stieg, um von der VIP-Tribüne zum Spielfeld zu gelangen. "Als wir in den Aufzug stiegen, stand es 1:0 für Bayern. In der Aufzugkabine hörten wir Jubel. Wir dachten: Okay, der Abpfiff. Als wir kurze Zeit später durch die Katakomben in Richtung Rasen gingen, sahen wir die ManU-Spieler jubeln, die Bayern lagen am Boden. Ich dachte: Mist, doch der Ausgleich. Kurz darauf blinkt es an der Anzeigetafel: 1:2! Wir konnten es nicht glauben."
Diesmal war die späte Wende zugunsten Reals nicht unverdient. Das dominantere Team, mit mehr Ballbesitz, mehr Torschüssen, schlug spät, aber entscheidend zu. Doch Kahn und viele andere dürften ob der Ähnlichkeiten in den Szenen gleich mehrfach geschluckt haben. Auch, weil es nach dem Doppelpack des Ex-Bundesliga-Profis Joselu noch 13 weitere Minuten Nachspielzeit gab. In der 90.+13 landete ein Schuss von Matthijs de Ligt sogar noch im Tor, doch Schiedsrichter Szymon Marciniak hatte zuvor abgepfiffen. Das vermeintliche Abseits erhitzte die Gemüter noch weit nach Spielende.
Nicht nur deswegen wollte niemand die Schuld bei Neuer abladen. "Denn wenn es irgendjemanden gibt, der das nicht verdient hat, dann ist es Manu. Wir wissen, wo er herkommt. Wir wissen, was er geschuftet hat, was er getan hat dafür", sagte Tuchel zu Neuers Patzer. "Niemand wird mit dem Finger auf ihn zeigen. Er ist der Unglücklichste von allen." Neuer sagte: "Das ist extrem bitter, so wie das passiert ist. Dafür gibt es wenig Worte." Mit einem Fuß waren sie seiner Aussage nach schon in London, dann aber grätschte Joselu zweimal dazwischen. Kahn dürfte sich oben auf seinem Platz daran erinnert haben, wie er 1999 nach Abpfiff ernüchtert im Tor liegen blieb. Und wie er drei Jahre später völlig leer am Pfosten lehnte.
Beide Male musste er anschließend bei der Siegerehrung am Pokal vorbeigehen. Diese Schmach bleibt den Bayern dieses Mal erspart. Keine Final-Teilnahme, keine Siegerehrung. Es schmerzt aber die noch bittere Erkenntnis: Nicht mal für ein Finale qualifiziert. Titellos. Erstmals seit 2012. Ein Jahr darauf hatte es das Wembley-Finale in der Champions League gegen Borussia Dortmund gegeben. Das fällt dieses Mal aus.
Quelle: ntv.de