Fußball

DFB-Elf ein Passagier ohne Halt Führerloser Fußball-Zug rast auf unheilvolle WM zu

"Stoppen Sie diesen Zug! Wir müssen Luft holen", scheint Thomas Müller zu rufen. Doch niemand hört ihn im Getöse dieser Tage.

"Stoppen Sie diesen Zug! Wir müssen Luft holen", scheint Thomas Müller zu rufen. Doch niemand hört ihn im Getöse dieser Tage.

(Foto: IMAGO/Sven Simon)

Ein enttäuschendes 0:1 gegen Ungarn im letzten Heimspiel vor der WM. Zwei Monate vor Beginn des Wüstenturniers fährt die DFB-Elf um Trainer Flick auf Sicht. Damit ist sie nicht allein. Ein ganzes Land rast auf einen womöglich unheilvollen Winter zu. Der Fußball taugt nicht mehr zum Eskapismus.

Die Winter-WM in Katar ist noch nur ein Donnergrollen im Getöse dieser Tage. Die Welt hat wichtigere Dinge zu regeln. In Europa ist Krieg und bald kommt der Winter, bald reißt die Kälte neue Wunden in die Gesellschaft. Und Katar? Das ist Fußball! Das Turnier ist abzulehnen. Mindestens bis es beginnt. Das ist längst beschlossen. "Boykott! Boykott! Boykott!", ruft es aus allen Ecken und diesmal wird es auch so kommen. Alle wird das Turnier nicht bekommen. Eskapismus überstrahlt nicht jedes Unrecht.

Seit der unwürdigen Vergabe im Dezember 2010 taten sich immer neue Abgründe auf. Alles wurde aufgearbeitet, nur nicht von den Verantwortlichen, wenig hat sich verändert. Immer neue Abgründe taten sich auf - und immer neue Abgründe werden sich auftun.

Niemand mag Katar. Zumindest unter den Fußballfans in den Kurven der Liga.

Niemand mag Katar. Zumindest unter den Fußballfans in den Kurven der Liga.

(Foto: IMAGO/Team 2)

Das Weltturnier ist längst zu einem Symbol geworden für die Entfremdung des Fußballs von denen, die branchenüblich nicht einmal mehr als Stakeholder bezeichnet werden: von den Fans, die über die Jahre zu Konsumenten umgeschult wurden. Konsumenten aber folgen nicht mehr bedingungslos. Konsumenten suchen sich neue Produkte, wenn ihnen das alte nicht mehr passt. Dumm gelaufen. Die Vorwürfe der ehemaligen Fans, der neuen Konsumenten sind brutal und sie sind kaum zu widerlegen.

Was Katar ist und was der DFB tut

Katar, das ist Gier. Katar, das sind Korruptionsvorwürfe. Katar, das sind Menschenrechtsverletzungen, das sind Tote auf den Baustellen. Katar, das ist Homophobie. Katar, das ist Sportswashing in Reinkultur. Katar, das sind klimatisierte Stadien. Katar, das ist ein kalkulierter Angriff auf den Verstand. Katar, das ist der Mount Everest der dreckigen Machtmaschine FIFA.

Beinahe ein Jahrzehnt schwieg der Fußball und mit ihm der von so vielen Skandalen erschütterte DFB, erst nahe zum Turnier, auch mit dem neuen DFB-Präsidenten Bernd Neuendorf, änderte sich das in den vergangenen Monaten. Doch all das dauert, geht nicht schnell genug, kommt viel zu spät, soll es dem DFB-Team ermöglichen, den Fokus rein aufs Sportliche zu legen. Die Kritiker sind laut und sie haben viele Argumente.

Aber der DFB tut etwas. Mehr als die meisten Fußballverbände aus den Teilnehmerländern. Workshops reihen sich an Workshops. Menschenrechtler konfrontieren Verband und Nationalspieler mit der Wirklichkeit. Regenbogenbinden werden zu "One Love"-Binden, provozieren noch mehr Aufregung. Aus Nationalspielern werden auf dem tags zuvor noch gegen Flüchtlinge schießenden Boulevard "Regenbogen-Feiglinge". Der zweite Name des DFB ist immer noch Ärger. Er macht immer noch ein Empörungsangebot mehr. Auch, wenn er es doch nur gut und ernsthaft gut gemeint hat.

Sie wollten nur Fußball spielen

Corona ist auch noch nicht vorbei. Wie die Nationalmannschaft erst in dieser Woche feststellen musste. Kapitän Manuel Neuer und Mittelfeldspieler Leon Goretzka reisten nach einem positiven Test unverrichteter Dinge wieder von der DFB-Elf in Richtung München. "Es war eine gute Vorbereitung. Wir wissen nicht, was in Katar passiert. Es kann uns ja auch da treffen. Wir müssen darauf reagieren, wir müssen mit der Situation bestmöglich umgehen", sagte Hansi Flick, der so gerne positive Dinge aus negativen Momenten saugt.

Alles ist dieser Tage ein Test für die WM. Alles Tagesgeschäft und alles Druck auf den Nationalspielern, die mit wenigen Worten das Problem Katar und mit ihm das System Fußball 2022 aus der Welt schaffen sollen. Wird ihnen nicht gelingen. Weil nur ein Boykott etwas auslösen würde. Irgendwas auslösen würde. Nur was?

Corona als Nebenthema, Katar und alles mit dem Turnier zusammenhängende Unrecht als Hauptthema. Der DFB kann daran nicht vorbei. Der Verband und somit auch die Spieler stehen jetzt unter dem Druck der lauten Öffentlichkeit, die all das nicht mehr mitmachen will. Nicht beim Fußball, der ihnen viel zu lang schon den Mittelfinger gezeigt hat, in dem man sich längst nicht mehr verlieren kann. Obwohl genau das ja das Versprechen war. Damals als die Pandemie begann und für kurze Zeit die Demut eingekehrt war.

Plötzlich, aber auch nicht so plötzlich, sehen sich die Nationalspieler mit der Gleichzeitigkeit der Krisen konfrontiert. Sie ziehen nicht mehr am Fußball vorbei, sie sind omnipräsent. Dabei wollten sie doch einfach nur Fußball spielen, Geld verdienen, Instagram-Stories machen und am Ende vielleicht sogar den Titel holen. Aber mit den Unsummen steigt die Verantwortung. Fußball ist keine Gaudi mehr. Platte Witze bleiben platte Witze. Es wird weniger gelacht jetzt.

Der Zug rast unaufhaltsam

Und auch aus sportlicher Sicht stellt sich das Unterfangen Katar 2022 nicht so einfach dar. Zu den externen Faktoren gesellt sich der Irrsinn des Spielkalenders. Um nach Katar zu gelangen, müssen die Nationalspieler aus dem rasenden Zug Klubfußball springen und innerhalb weniger Tage zu einer Einheit zusammenwachsen. Noch nie fand ein letztes Heimspiel vor einer WM so spät im Jahr und doch so weit entfernt vom Turnier statt. In ziemlich genau zwei Monaten, am 23. November 2022, beginnt die DFB-Elf gegen Japan ihre Reise ins Ungewisse. Erst knapp eine Woche vorher zieht Flick seine 26 für Katar zusammen.

Noch ein Test gegen den Oman, und am 17. November ab nach Katar. Kein Trainingslager in Südtirol, keine Chancen auf Teambuilding. Das war bis zum verpatzten letzten Weltturnier von Joachim Löw im Jahr 2018 immer die große Stärke gewesen. Diesmal fällt das aus. Direkt rein. Die Spieler bringen den Klub-Ballast der letzten Monate ungefiltert mit. Erschreckende Aussichten aktuell.

Wie Thomas Müller nach der Niederlage in Leipzig anmerkte. Die Krise der Vereine, sagte er und meinte womöglich eher die Krise der Bayern, belastet das Team. Zu Bayerns Jahrhundertkrise kommt noch Leipzigs Absturz ins Mittelfeld und die allgemeine Unpässlichkeit der Dortmunder Spieler. Das Gerüst wackelt. Kai Havertz, İlkay Gündoğan, Antonio Rüdiger, Thilo Kehrer haben allesamt in ihren Verein zu kämpfen.

"Die, die nicht dabei sind, haben ihre Chancen", sagte Flick nach der Niederlage gegen die Ungarn, bei der die, die dabei waren, nicht überzeugten: "Wir sehen genau hin und schauen, welche Entwicklung jeder einzelne Spieler macht."

Niemand weiß irgendwas

Was bedeutet: Die Tür steht auf für Mario Götze, dessen Steckpässe am Strafraum ein Spiel aufbrechen könnten - wenn der WM-Held von 2014 sie denn spielt. Die Tür steht auch auf für Youssoufa Moukoko, der beim BVB seine Joker- und Kopfballqualitäten unter Beweis gestellt hat. Die Tür steht ebenso auf für Niclas Füllkrug, der für Werder Bremen gerne spät trifft. Und natürlich steht die Tür auch für Mats Hummels, Julian Draxler oder Karim Adeyemi auf. Und für Armel Bella-Kotchap, den Stolz aller Bochumer. Wer ist unbeschwert genug, um nur Fußball zu spielen? Wer bringt die Form mit? Wer verletzt sich und wer trifft plötzlich keinen Ball mehr?

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Der Schnellzug Klubfußball rast ab nächster Woche unaufhaltsam weiter. Er wird Antworten auf diese Fragen finden. Er rast ohne Pause. Bis fast zur WM. In Deutschland wird der Winter ins Land kommen. Die Menschen im Land sind unruhig und schrecklich nervös. Das Donnergrollen der WM ist bislang nicht mehr als ein Getöse im Getöse dieser Tage. Draußen ist Krieg, auf den Schlachtfeldern in der Ukraine und in den Köpfen der Menschen. Draußen ist Inflation und Energiekrise. Draußen ist es nicht mehr so schön, und der Fußball kann mit seiner WM nicht einmal mehr seinen Teil zur "Brot und Spiele"-Formel beitragen. Wer kein Brot bekommt, dem sind Spiele herzlich egal.

Zwei Monate vor dem Wüstenturnier wissen wir nichts. Zwei Monate vor der WM weiß auch Bundestrainer Hansi Flick nichts. Der Zug rast irgendwo hin. Alles ist Tagesgeschäft.

Quelle: ntv.de

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