"Der ist Wahnsinn, der Typ" Magath beschert Hertha den Fotheringham-Day
20.03.2022, 09:10 Uhr
Mark Fotheringham freut sich über das 3:0.
(Foto: IMAGO/Andreas Gora)
Der 68-jährige Felix Magath soll Hertha BSC irgendwie in der Fußball-Bundesliga halten. "Sind die jetzt komplett verrückt?", fragen sich alle. Der Meistertrainer ist seit zehn Jahren raus. Zu allem Unglück bekommt er Corona und beschert der Hauptstadt ungewollt einen Feiertag - den Fotheringham-Day.
An einem Frühlingssamstag in der deutschen Hauptstadt zeigt der Fußball seine Magie. Nach einem langen Winter und einem Absturz in die Abstiegsregionen gewinnt Hertha BSC überraschend 3:0 (1:0) gegen die TSG Hoffenheim und klettert einen Platz in der Tabelle. Nach dem Spiel treffen für einen kurzen Moment des Glücks und der Zufriedenheit Biografien aufeinander und gehen dann wieder ihren Weg. Auf einer Bank sitzt einer, der die aus dem Stadion strömenden Fans mit einem dicken Grinsen beobachtet.
Die Reisegruppen der Schotten, die für "eine Party" angereist sind und als Hertha-Fans abreisen. Er sieht die freudetrunkenen Atzen, die den Schotten erst unter den Kilt schauen wollen und sie dann umarmen und er sieht den kleinen Jungen, der die blauweiße Fahne stolz schwenkend in Richtung S-Bahn trägt. Er hört den Dialog zweier Freunde, die sich über den wunderbaren Tag unterhalten. Wetter gut und Hertha hat gewonnen. Er sieht, wie sich die Fans an ihrem Berliner Kindl festhalten und ungläubig noch einmal die Szenen des Spiels durchgehen, sich umarmen, lachen und dann ihres Weges gehen. Für einen Moment sind hier am Axel-Kruse-Rondell am Eingang zur S-Bahn alle vereint. Viel zu lange war das nicht so. Doch jetzt sind sie zusammen und lachen.
Aus den Sozialbauten Dundees
Der, der die Menschen an diesem Tag zusammenbringt, heißt Mark Fotheringham, ist 38 Jahre alt und stammt aus Dundee, hoch oben im Nordosten Schottlands. Als aktiver Fußballer spielt er für elf Vereine in 17 Jahren, als Trainer arbeitet er seit 2016 als Assistent. In der dritten und zweiten deutschen Liga und in einer unterklassigen schottischen Liga. Früh setzt er alles auf eine Trainerkarriere, auch weil er 2014 beim FC Fulham auf Felix Magath trifft. Er macht sich akribisch Notizen nach jeder Einheit, sieht in dem Chaos, das den Abstieg des Londoner Klubs und die kurze Amtsperiode des deutschen Schleifers umgibt, die positiven Seiten. Er ist beeindruckt, von dem, was er lernt und von dem ehemaligen Meistertrainer.
"Wenn ich irgendwann mal meinen ersten Job als Nummer eins bekomme", sagt er 2017 über seine Wanderjahre als Spieler, "werde ich einige Asse in meinem Ärmel haben. Es war gut für mich. Alles passiert aus einem Grund und ich glaube, ich war für all diesen Stationen bestimmt. Am Ende ist es doch so: Ich bin ein Typ aus den Sozialbauten Dundees. Ich kann fließend Deutsch sprechen und ich kenne ein paar ziemlich wichtige Leute im deutschen Fußball."
Wie eben Felix Magath, der nach dem Abrutschen der Hertha auf einen Abstiegskampf als Retter verpflichtet wird und dessen ersten Tage in Berlin von großer Aufmerksamkeit begleitet werden. Kaum jemand kann verstehen, wie Geschäftsführer Fredi Bobic auf diese Idee kommen konnte. Die Öffentlichkeit gehört dem 68-Jährigen und der Trainingsplatz Fotheringham. Er begegnet den Spielern mit Respekt, kennt jeden Spitznamen und fordert viel.
"Wir sind Hertha Berlin"
Dann muss Magath sich in Isolation begeben, Bobic glaubt gar daran, dass Hertha bald der Himmel auf den Kopf fällt. Das passiert nicht. Hertha als gallisches Dorf, das durch die Widerstände der Außenwelt erstmals in dieser Saison wirklich zusammengehalten wird. Plötzlich ist alles, was passiert ist, egal: Die Wochen des Niedergangs, die abermalige Verdichtung der Absurditäten dieses Fußballvereins, der von einem Unglück ins nächste fällt, bei dem jede Entscheidung eine Fehlentscheidung zu sein scheint.
Ein Verein, der von außen nicht einmal mehr milde belächelt wird, sondern beinahe ausschließlich mit blankem Spott überzogen: Weil es ihnen gelungen war, einen Kader mit den beinahe 400 Millionen eines erratischen Investors, der geliebt werden will und Unruhe stiftet, signifikant zu verschlechtern und dessen Fans nicht mehr nur mit dem Makel des Olympiastadions, sondern auch mit dem Label des "Big City Clubs" kämpfen müssen. Dabei erwarten sie eigentlich wenig von ihrem Verein. Zu unstet ist die Geschichte des Klubs, der seinen 130. Geburtstag als Absteiger zu begehen droht.
"Wir sind Hertha Berlin. Wir sind die Hauptstadt von Deutschland. Wir sind sehr stolz, dass wir arbeiten hier in diesen Verein. Das ist ein traditional Verein", sagt Fotheringham am Tag nach dem 122. Geburtstag der Vereinsikone Hanne Sobek. Nach dem Sieg klopft er wie wild auf seine Brust. Eine meist hohle Geste, bei ihm wirkt sie echt. Denn alles, was passiert, passiert aus einem Grund. Er holt aus und sagt in schottischem Deutsch etwas, das bislang niemand über ein immer noch spärlich gefülltes Olympiastadion gesagt hat: "Das ist unglaublich, wie du uns gepusht haben von Anfang an. Ich bin nur interessiert, wann wir bekommen über 25.000. Dann ist 'hell' los. Das ist unglaublich in diesem Stadion."
Raum gibt Hertha Platz
Als "hell" an diesem Tag zum ersten Mal los ist, steht Fotheringham da und dreht sich ganz langsam zu Stürmertrainer Vedad Ibisevic um. Niklas Stark hat kurz vor der Pause nach einem Plattenhardt-Freistoß getroffen, aber der Schiedsrichter eine Abseitsstellung erkannt. Das ganze Stadion wartet auf den VAR. Es dauert ewig. Vieles spielt sich gleichzeitig ab, ganz langsam spricht sich herum, dass das Tor zählen wird. Erst holt Ersatzspieler Kevin Prince-Boateng Peter Pekarik zu sich, spricht mit ihm, bedeutet ihm, dass alles gut ist und vorne schleicht Angreifer Ishak Belfodil in Richtung Ball, den Hoffenheim-Torhüter Oliver Baumann für den Freistoß zurechtgelegt hat. Der Hertha-Angreifer schnappt sich die Kugel, läuft Richtung Mittelkreis und Schiedsrichter Daniel Schlager malt mit den Fingern ein Rechteck. Jubel. Und Fotheringham reckt die Arme in die Höhe, tippt dann mit seinen Fingern wie wild auf die Stirn. "Klar bleiben", scheint er zu signalisieren.
Klar bleiben die Berliner auch in der zweiten Halbzeit, kommen zu zwei weiteren Treffern nach Plattenhardt-Freistößen. Hoffenheim fällt wenig ein, sie schieben ihre Verteidigung bei jedem Standard ein wenig höher, sodass sie beim 3:0 letztendlich nur noch wenige Meter vom Ausführenden entfernt sind. Es hilft ihnen nicht. Vorne kommen sie nur einmal zu einem echten Abschluss, ansonsten ist vom Anwärter auf einen Champions-League-Platz trotz viel Ballbesitz wenig zu sehen. Im Mittelfeld räumen Santiago Ascacibar und sogar Lucas Tousart jede Gefahr weg. Und bei jedem Treffer tänzelt Ibisevic um Fotheringham, macht die Säge und holt sich im Anschluss, wie zur Belohnung, eine Umarmung des Trainers für einen Tag ab.
Gegen Hoffenheim ist Hertha das Spielglück nicht nur in der Szene beim 1:0 hold. Nach einer starken Anfangsphase erlangen die Gäste Mitte der ersten Halbzeit die Spielkontrolle. Wieder einmal haben die Berliner aus guten Chancen keinen Ertrag erzielen können und so ist alles angelegt für eine weitere Niederlage. Besonders als Nationalspieler David Raum von links in den Strafraum eindringt und Marco Richter das macht, was Hertha-Spieler in den letzten Monaten so oft gemacht haben: Er bietet dem Gegner einen Elfmeter an, doch der verpasst die Gelegenheit, zieht das Foul nicht, läuft weiter und der Angriff versandet.
Bobic kannte ihn nicht
Es ist ein Moment, der über die Zukunft eines Vereins bestimmen kann und er kippt zugunsten der Hertha, bei der Fotheringham in seiner Coachingzone steht, den Bällen hinterherjagt, dirigiert und in der Anfangsphase sogar das Maskottchen Herthinho mitnimmt, ihm signalisiert, dass alle alles geben müssen. "Der ist Wahnsinn, der Typ", sagt Niklas Stark nach dem Spiel. "Der hat Energie, das ist krass." Der ehemalige Nationalspieler erzielt nicht nur einen Treffer, sondern überzeugt in einer überraschenden Rolle vor der Abwehr. Hertha war in einem 4-1-4-1 aufgelaufen. Was dem Schotten egal ist.
Behauptet er zumindest. "Ich konzentrieren nicht so auf Taktik. Ich konzentrieren auf Abstände. Sir Alex Ferguson sagte einmal, er spielt 4-4-2, aber das 4-4-2 Raute oder das war 4-3-3. Ich arbeite jetzt für einen bekannten Trainer im Weltfußball", sagt er nach dem Spiel. "Taktik interessiert mich nicht. Das ist so." Und es ist erfolgreich. Für den Moment, den Felix Magath, der alte Tüftler, milde lächelnd in seinem Hotelzimmer beobachtet haben dürfte. Natürlich ist der 68-Jährige irgendwie auch da, aber an diesem Tag geht es nicht um ihn, auch wenn er in der Halbzeit eine digitale Ansprache hält, ständig mit seinem Assistenten verbunden ist. Es geht vielmehr um den, den er für diese Rolle auserkoren hat.
Der, der als Trainer-Rentner verspottet wurde, hat alle überrascht, sogar Fredi Bobic. "Als Felix Magath mir gesagt hat, wen er dazu holen möchte, musste ich erstmal recherchieren", sagt der nach dem Spiel über Fotheringham: "Egal, wo ich was über ihn gehört habe, er wurde als begeisternd und authentisch beschrieben. Er ist jemand, der Menschen mitnehmen kann und ich freue mich für ihn."
Überrascht hat Fotheringham auch in seiner Heimat. "Früher mal gehörten Schotten zu den Top-Trainern im Fußball - Matt Busby, Jock Stein und Sir Alex Ferguson. Ehrlich gesagt, erwartet man heutzutage so was nicht so häufig", sagt der legendäre schottische Fußball-Kommentator Derek Rae im Gespräch mit ntv.de. Rae hat früh sein Herz an die Bundesliga verloren, lebt nun in den USA, kommentiert dort für ESPN und leiht der FIFA-Serie seine Stimme. Auch er begeht den Fotherinhgam-Day. Er sagt: "Letzte Woche war Mark Fotheringham auch in Schottland kein Thema, aber jetzt weiß man auf jeden Fall, was passiert ist."
All das können die Fans vor dem Stadion kaum glauben. Im Sonnenuntergang stehen sie die letzten auf dem Parkplatz vor dem Olympiastadion. Sie hören Witts "Goldenen Reiter" und singen mit. Und wer genau lauscht, hört sie vom "Golden Retter" und dem "Lord dieser Stadt" singen. Oder vielleicht auch nicht. Wer kann das an diesem Fotheringham-Tag in der Hauptstadt schon sagen?
Quelle: ntv.de