600 Millionen und Coach versenkt Planlose Investoren stürzen Chelsea ins Verderben
04.04.2023, 17:52 Uhr
Hatte kein Glück: Graham Potter.
(Foto: picture alliance / empics)
Kurz vor der heißen Phase der Saison schmeißt der FC Chelsea seinen Trainer raus. Graham Potter stolpert aber nicht nur über seine sportliche Bilanz, sondern vor allem über die US-Investoren, die ihm eine anscheinend unlösbare Aufgabe aufgebürdet hatten.
Wenn die Erde in einer Region häufig hintereinander bebt, nennt man das in der Geologie ein Schwarmbeben. So lässt sich auch das beschreiben, was erst jüngst in der Fußball-Welt passierte. Gleich mehrere Topklubs warfen ihre Übungsleiter raus. Alle Trainerbeben haben eine gemeinsame Ursache: Nicht etwa ein Vulkan, sondern die Panik, den Saisonendspurt zu verpassen, rief das Naturschauspiel hervor. Am gestrigen Montag bezeichnete Liverpools Trainer Jürgen Klopp es als "seltsame Wochen".
Das erste Beben begann vor fast zwei Wochen mit Julian Nagelsmann beim FC Bayern und reichte bis nach England. Dort erwischte es danach Tottenhams Antonio Conte, es folgte Brendan Rodgers bei Leicester City und endete vorerst bei Klopps und Liverpools kommendem Gegner, dem FC Chelsea (21 Uhr/Sky und im ntv.de-Liveticker). In London ist es der Schlusspunkt einer bizarren Beziehung: Nach gerade einmal sechs Monaten musste Graham Potter am Sonntag schon wieder seinen Posten räumen.
Aus Sicht des britischen "Guardian" lag die Schuld ohnehin eher weniger beim Trainer, vielmehr sei der 47-jährige Potter von seinem Leiden erlöst worden. Er führte die "Blues" gegen den BVB ins Champions-League-Viertelfinale, dort wartet nun Real Madrid in der kommenden Woche. In der Liga ist die Lage indes gefährlich: Als Elfter hängt Chelsea seinen Ansprüchen meilenweit hinterher. Und als wäre das sportlich nicht alles kompliziert genug, wartet auf Potters Nachfolger (vielleicht Nagelsmann?) eine viel größere Aufgabe: die US-amerikanischen Investoren.
Über 600 Millionen Euro für neue Spieler
Nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine musste sich Oligarch Roman Abramowitsch beim FC Chelsea zurückziehen. Im Frühsommer 2022 übernahm dann Todd Boehly gemeinsam mit Behdad Eghbali als Kopf eines Investorenkonsortiums den Klub. Boehly, der im US-Sport beheimatet ist, trat an, um den Fußball umzukrempeln. Anders als Abramowitsch mischen sie sich aktiv ins Tagesgeschäft ein, Boehly soll bei Transfers mitverhandelt haben.
Das Konzept scheiterte bislang krachend. Die Investoren pumpten aberwitzige Summen in den Kader, insgesamt waren es seit ihrer Übernahme mehr als 600 Millionen Euro allein für neue Profis. Das Ergebnis ist eine aufgeblähte Spielersammlung, die keinerlei Struktur erkennen lässt. Ein Beispiel: Aktuell beschäftigt Chelsea fünf Innenverteidiger, drei davon wurden seit Saisonbeginn für rund 150 Millionen Euro neu verpflichtet. Die Flügelpositionen sind unterdessen mindestens dreifach besetzt - aber ein echter Mittelstürmer fehlt nach wie vor.
Auch das Financial Fairplay der UEFA versuchten die US-Investoren auszuhebeln. Der revolutionäre, wie riskante Ansatz: Junge Talente wurden für horrende Summen gekauft, dafür aber mit unüblich langen Verträgen ausgestattet, um sie über einen größeren Zeitraum "abzuschreiben". So hat das ukrainische Talent Mychajlo Mudryk (insgesamt rund 100 Millionen Euro Ablöse) etwa einen Vertrag bis 2031. Zuletzt soll ein 15-jähriges ecuadorianisches Wunderkind für geschätzte 15 Millionen Euro gehandelt worden sein. Auf dem Papier zählt das als nachhaltiges Wirtschaften. In der Praxis ist das eine riskante Wette auf die Zukunft: Denn was ist, wenn sich die Talente nicht wie gewünscht entwickeln? Die UEFA hat schon angekündigt, dem bald einen Riegel vorzuschieben.
Auch Tuchel ist an den US-Investoren gescheitert
Dazwischen wirkte Graham Potter, der häufig als viel zu nett beschrieben wurde, dann doch etwas verloren. Der Trainer wechselte aus dem beschaulichen Brighton, das er zuvor rund um den Ex-Ingolstädter Pascal Groß vom Abstiegskandidaten zur soliden Mittelfeldmannschaft geformt hat. Der Wechsel zu Chelsea war der nächste Karrieresprung: Er beerbte dort den entlassenen Thomas Tuchel. Investor Boehly griff dafür tief in die Tasche: Potters kurzes Kapitel soll den Klub mehr als 35 Millionen Euro gekostet haben, über 20 Millionen für dessen Ablöse und knapp 15 Millionen, um Tuchel abzufinden, berichtet der "Guardian".
Und so musste Potter plötzlich ohne große internationale Erfahrung dieses aufgeplusterte Starensemble betreuen und dazu auch noch erfolgreich sein. In der englischen Presse wurde gewitzelt, dass Potter mehr neue Spieler begrüßte, als Siege geholt habe (stimmt nicht ganz: Acht Neueinkäufen im Winter stehen wettbewerbsübergreifend zwölf Siege gegenüber).
Sein Vorgänger Tuchel, der mit Chelsea noch bis zum September 2022 erfolgreiche Zeiten bei Chelsea erlebte, war selbst schon an den neuen US-Investoren verzweifelt. Nach dem Abschied aus London war er "am Boden zerstört", mit der Mannschaft gewann er noch ein Jahr zuvor die Champions League. Bei den Fans war er wegen seiner Erfolge beliebt und musste dennoch gehen. Auch, weil es immer wieder zwischen Trainer und Investor knarzte. Tuchel forderte im Sommer 2022 noch selbst eine Transferoffensive, er sah die "Blues" ansonsten nicht konkurrenzfähig. Auch bei konkreten Personalien gerieten beide Seiten aneinander: Boehly wollte angeblich den portugiesischen Superstar Cristiano Ronaldo verpflichten, Tuchel nicht.
Doch das liegt mittlerweile alles in der Vergangenheit. Tuchel ist nun in München, sein Bayern-Vorgänger Nagelsmann wird in London gehandelt. Ihm gibt Tuchel eine diplomatische Warnung auf den Weg. "Der Klub hat sich massiv verändert. Und damit wurde es auch ein bisschen leichter für mich, Distanz zu kriegen. Deshalb hat es jetzt nicht mehr die ganz großen Emotionen ausgelöst", sagte der 49-Jährige über Chelsea. Und was heißt das für Nagelsmann? "Deshalb brauche ich keinen Rat mehr geben, weil der Verein ein anderer ist, als ich ihn vorgefunden habe."
Auch Potter hat Chelsea nicht wieder hinbekommen. In der Liga steht deshalb nun das Duell der enttäuschten Topklubs an. Nach zwei Niederlagen in Folge steht Liverpool auf Rang acht in der Tabelle. Auch Klopp sagte zuletzt, er sei sich bewusst, dass er seinen Job wegen der Vergangenheit habe, nicht für das, was sie diese Saison zeigten. "Wenn das meine erste Saison wäre, würde es ein bisschen anders aussehen", meinte Klopp. Er trainiert den Traditionsklub seit Oktober 2015, 2019 hatte er ihn zum Gewinn der Champions League geführt, 2020 wurde er englischer Meister mit Liverpool. "Ich bin hier, um abzuliefern. Ich bin hier nicht als Talisman", betonte Klopp. Und setzt vermutlich darauf, dass es nicht bald das nächste Trainerbeben im englischen Fußball gibt.
Quelle: ntv.de