Fußball

Passolig, Repression, Erdoğan Podolski und Gomez spielen in kranker Liga

Nur noch selten ist solch ausgelassene Stimmung - wie hier bei Galatasaray - in türkischen Stadien zu erleben.

Nur noch selten ist solch ausgelassene Stimmung - wie hier bei Galatasaray - in türkischen Stadien zu erleben.

(Foto: imago/Seskim Photo)

Lukas Podolski, Mario Gomez, Robin van Persie - selten wagten so viele internationale Stars das Abenteuer Süper Lig wie in diesem Jahr. Doch der Kaufrausch der Klubs kann nicht darüber hinweg täuschen, dass der türkische Fußball schwer krank ist.

Für die deutschen Nationalspieler Lukas Podolski und Mario Gomez beginnt an diesem Wochenende die Süper Lig. Während der Weltmeister bei Rekordmeister Galatasaray Istanbul auf Torjagd geht, versucht der Ex-Florentiner beim Stadtrivalen Beşiktaş sein Glück. Die beiden Stürmer sind nicht die einzigen namhaften Transfers, mit der die erste türkische Liga im Vorfeld der neuen Saison aufwartete. Für üppige Gehälter entschieden sich auch Samuel Eto'o, Nani und Robin van Persie für das Abenteuer Türkei.

Doch so beeindruckend der Kaufrausch der türkischen Klubs auch sein mag: Er kann nicht darüber hinweg täuschen, dass der türkische Fußball krankt. Dabei geht es nicht nur um Gewaltexzesse oder den immer wiederkehrenden Manipulationsverdacht. Diese Probleme gibt es auch in anderen europäischen Top-Ligen. Die Süper Lig muss sich eines weiteren folgenschweren Problems erwehren: Das Symptom heißt "Passolig".

Wer in den beiden höchsten türkischen Ligen ein Fußballspiel besuchen möchte, muss sich seit dem Ende der Saison 2013/14 zu jeder neuen Spielzeit auf Anordnung der Politik eine Fankarte - "Passolig" - kaufen. So weit, so schlecht.

Materialisierter Albtraum "Passolig"

Für Datenschützer ist "Passolig" der materialisierte Albtraum. Um die Karte zu erhalten, müssen Fans in einem langwierigen bürokratischen Akt eine Menge persönlicher Daten angeben, deren Verwendungszweck nicht eindeutig angegeben wird. Anschrift, Telefon- sowie Personalausweis-Nummer werden "zum Schutz vor Gewaltausbrüchen" ebenso registriert wie die Vereinszugehörigkeit – ein Besuch bei anderen Klubs ist damit nahezu ausgeschlossen.

Passolig-Werbung vor dem Sükrü Saracoglu Stadı von Fenerbahçe Istanbul.

Passolig-Werbung vor dem Sükrü Saracoglu Stadı von Fenerbahçe Istanbul.

(Foto: cri)

Während dies durchaus auch in anderen europäischen Ligen gängige Praxis ist, setzt die Süper Lig noch einen drauf. Da es sich bei "Passolig" um eine Kombination aus elektronischem Eintrittsticket und Kreditkarte handelt, ist man bei der Registrierung gezwungen, zudem ein Abo bei der "Aktifbank" abzuschließen – für zehn Jahre. Das klingt absurd und ist teuer. Für die Registrierung müsse man je nach Verein zwischen 15 bis 20 Lira (etwa 5 bis 16 Euro) sowie eine Spieltagsgebühr von etwa 2 Lira (etwa 65 Cent) bezahlen. Das macht bei 17 Meisterschaftsspielen zwar nur rund 26 bis 30 Euro. Dass damit jedoch nicht der eigene Verein, sondern eine Privatbank unterstützt wird, hinterlässt abermals einen faden Beigeschmack.

Doch es wird noch pikanter: Um sich Zutritt zum Stadion zu verschaffen, muss die elektronische Plastik-Karte regelmäßig mit einem Guthaben aufgeladen werden. Seit der staatlich verordneten Regelung kann die "Aktifbank" so nahezu konkurrenzlos Gewinne erwirtschaften. Dass das Geldinstitut ein Subunternehmen der "Çalık Holding" ist, die von Berat Albayrak geführt wird, kann man nur wohlwollend als Zufall bezeichnen. Albayrak ist nicht nur Politiker der regierenden AKP, sondern auch der Schwiegersohn des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Zerreißprobe mit den Fans

Sportlich scheinen die Zeichen besser zu stehen. Als der Wechsel von Podolski zu Galatasaray publik wurde, meldete sich Trainer Christoph Daum zu Wort: "Das passt ideal vom Spielerischen und auch vom Menschlichen her. Ich bin mir sicher, dass der Lukas dort ein Stück Heimat finden wird, was er auch schon in Köln vorgefunden hat." Doch gerade Daum, der die Süper Lig kennt wie wohl kaum ein anderer Deutscher, müsste wissen, dass dieser Vergleich hinkt. Zwar sind die "Gala"-Fans mindestens genauso fußballverrückt wie die Kölner. Im Gegensatz zum heimischen Müngersdorfer Stadion wird der Weltmeister jedoch zumeist vor leeren Rängen auflaufen.

Zuschauerzahlen türkische Süper Lig

Saison    Gesamt     Ø Auslastung
2014/15  2.404.075         29,0%
2013/14  3.682.103         46,7%
2012/13  3.476.762         39,3%

Quelle: transfermarkt.de

Seit 2014 sind die Stadien nur noch bei den Istanbuler Stadtderbys voll. Ansonsten erlebt die ohnehin schon schwach besuchte Süper Lig einen dramatischen Zuschauerschwund (siehe Infobox). Fragt man türkische Fans nach dem Grund, so lautet die Antwort vereinsübergreifend: "Passolig".

Zuschauerzahlen Erste Bundesliga

Saison     Gesamt      Ø Auslastung
2014/15  13.335.058         93,4 %
2013/14  13.305.840         92,3 %
2012/13  13.049.585         92,3 %

Quelle: transfermarkt.de

Bei einer beachtlichen Zahl von Ultras und Fans regt sich neben dem losen Boykott zunehmend organisierter Widerstand. Nachdem ein Gericht Verstöße gegen den Verbraucherschutz erkannte, ist es Fanorganisationen wie "Taraf-Der" sogar gelungen, die Klage gegen "Passolig" bis vor das Verfassungsgericht zu bringen. Nicht zum ersten Mal wird sich beim Thema Fußball zeigen, wie unabhängig die türkische Gerichtsbarkeit ist.

Die Süper Lig krankt, weil sie die Zerreißprobe mit den eigenen Fans wagt. Die italienische Serie A hat sich von der "Tessera del Tifoso", die Vorbild von "Passolig" gewesen sein könnte, längst wieder verabschiedet. Stattdessen gibt es dort nun eine gemäßigtere Karte. Die "Clubcard" der niederländischen Eredivise wird sogar nur spieltagsbezogen eingesetzt - ein Modell, das unter anderem für die polnische Ekstraklasa interessant sein könnte, wo immer mehr Klubs von der ungeliebten "Karta Kibica" abweichen. Die Süper Lig hingegen nimmt unbeirrt Kurs auf die längst bekannte Sackgasse.

Spielball der Politik

Die Causa "Passolig" verdeutlicht, dass es in der ersten türkischen Spielklasse, die aufgrund des Investments eines Wettanbieters offiziell "Spor Toto Süper Lig" heißt, mitnichten nur um Geld geht. Der Volkssport ist vielmehr zum Spielball der Politik geworden. Schon länger sind politisierte Fußballfans ein Dorn im Auge der konservativen AKP-Regierung. Seit 2011 besteht das "präventive Gesetz gegen Gewalt und Fehlverhalten". Es soll laut türkischem Verband zur Sicherheit von Fußballfans beitragen. Im Klartext bedeutet das "Gesetz 6222": Verstärkte Videoüberwachung, mehr Polizeibefugnisse und eben "Passolig".

Während die Politik zunehmend nach der Kontrolle der Stadien strebt, tragen Fans die Politik auf die Straße. Als im Frühjahr 2013 die Gezi-Proteste in Istanbul toben, geschah ein Fußball-Wunder. Allen Erzfeindschaften zum Trotz protestierten unter der Führung von Çarşı, der größten Fangruppe bei Beşiktaş, die Ultras der drei großen Vereine Galatasaray, Fenerbahçe und Beşiktaş gemeinsam gegen das Regime des damaligen Premierministers Erdoğan. Die aktive Rolle kam 35 Çarşı-Mitglieder teuer zu stehen: Wegen "Gründung einer terroristischen Vereinigung" mit dem Ziel eines Putsches drohte ihnen lebenslange Haft. Das Urteil wird nach nur vier Prozesstagen am 11. September erwartet. Es ist offenbar Erdoğans Rache.

Weg in die Belanglosigkeit

Hitzige Atmosphäre in brechend vollen Stadien mit ohrenbetäubenden Fangesänge und tonnenweise bengalischen Fackeln - das ist das Bild, das man mit Spielen türkischer Klubs verbindet. Doch es ist längst ein Relikt aus vergangenen, besseren Tagen, etwa als Galatasaray es gar zum Uefa-Cup-Sieger brachte. Auf dem Weg zum gläsernen Fan und zur vollkommenen Unterwürfigkeit gegenüber der Erdoğan-Administration verrennt sich die Süper Lig in der Belanglosigkeit.

Möglicherweise sind die aktuellen Mega-Transfers auf unbestimmte Zeit die letzten in diesem Ausmaß. Nicht nur die Zuschauer, sondern auch langjährige Sponsoren wie der Lebensmittelgigant Ülker treten in Scharen den Rückzug aus der Liga an, die ohnehin schon als Abstellgleis für abgehalfterte Stars wie Wesley Sneijder oder auch Podolski abgestempelt wird. Doch selbst diese werden sich in Zukunft überlegen, ob sie ihre Karriere in einer derart kranken Liga ohne Zuschauer ausklingen lassen wollen.

Immerhin bewegt die Problematik den türkischen Fußballverband TFF zum Nachdenken. So sorgt der TFF zur neuen Saison für einen winzigen Lichtblick. Die massenhaft auferlegten Tribünensperren wegen unsportlicher Gesänge wurden vollständig aufgehoben. Am eigentlichen Problem "Passolig" ändert das jedoch nichts.

Quelle: ntv.de

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