Eine Uefa-Pokal-Saison mit Köln So also fühlt sich der andere Fußball an
10.12.2017, 09:51 Uhr
In London und in Belgrad: Bengalos im Kölner Block.
(Foto: picture alliance / Nick Potts/PA)
Der 1. FC Köln steht mit der aktuellen Saison bereits in den Geschichtsbüchern des Fußballs. Die Spielzeit bringt den Klub in die Nähe von Tasmania Berlin, beendet seine längste Trainer-Ära - und lehrt mich ein neues Gefühl.
Nach einer Stunde spielt Sehrou Guirassy einen Doppelpass mit Milos Jojic, zieht mit einem Sprint in den Strafraum und fällt inmitten von zwei Londoner Gegenspielern. Der Schiedsrichter zeigt in Richtung Tor. Ich juble und balle vor Freude die Fäuste - doch der Block um mich herum, Oberrang Gegentribüne, bleibt seltsam still. Das Stadion in Müngersdorf befindet sich in Schockstarre. Der Videobeweis hat in Köln Spuren hinterlassen. Habe ich mich geirrt? Gibt es doch keinen Straf-, sondern Abstoß? Der FC Arsenal auf dem Rasen protestiert kaum.
Roland Peters ist Redakteur und Autor bei n-tv.de. Sonst befasst er sich meistens mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sein Heimatverein 1. FC Köln hat ihn nun erstmals mit nach Europa genommen. Deshalb schreibt er hier als Fan.
Die Mannschaft, meine Mannschaft des 1. FC Köln, hat davor wie die Maus vor der Schlange reagiert; aufgekratzt, um ihr Leben rennend, aber chancenlos. Doch Guirassy bleibt cool und schießt den Ball mit Karacho in die Tormitte. Der Rest ist Abwehrschlacht und ein surrealer Sieg gegen Arsenal in der Gruppenphase des Uefa-Pokals 2017/18. Der Erfolg hat dem Verein nichts gebracht, Köln ist trotzdem ausgeschieden. Das "Endspiel" bei Roter Stern Belgrad wurde verloren.
Wegen des schlechtesten eigenen Bundesligastarts aller Zeiten wandelt der 1. FC Köln auf den Pfaden von Tasmania Berlin. Die Amateure aus der Ost-Enklave der Bundesrepublik siegten in der gesamten Saison 1965/66 zweimal und spielten viermal remis. Das Torverhältnis betrug am Ende 15:108. Tasmanias Scheitern war ein Abstieg für die Ewigkeit, davon war die Fußballwelt überzeugt. Bis sich der Effzeh im Mai für seine erste Uefa-Pokal-Saison seit 25 Jahren qualifizierte und sogleich aufhörte, torgefährlich zu sein.
Die bisherigen nationalen Misserfolge sind nicht schön. Aber sie waren für mich so hübsch in europäischer Watte eingepackt. Plötzlich mussten Reisen geplant, Tickets organisiert, Urlaub genommen werden; es war eine neue Stufe, eine neue Welt. Aber was habe ich als Fan davon, alle Pokalpartien einer Mannschaft zu begleiten, die ohnehin zum Verlieren verdammt ist? Warum sich in Europa einer Hoffnung hingeben, die eine Illusion ist? Ausschnitte aus einer Saison, die für den 1. FC Köln und seine Anhängerschaft schon jetzt historisch ist.
Wild in London
Als die Auslosung im August stattfindet, ist mein Fankreis elektrisiert. Wir treffen uns an einem Arbeitstag vor einem Fernseher. Ich juble, als Roter Stern Belgrad aus dem Topf gezogen wird, mein Traumlos. Dazu Arsenal als Edelgegner und Borrisow als weiteres Abenteuer im Osten. Eine solche Ziehung ist so ungewohnt direkt, anders als bei der Frage nach der Bundesligazugehörigkeit: Dabei konfrontiert man sich über mehrere Monate mit der Möglichkeit, entweder kommendes Jahr auf St. Pauli und in Aue zu spielen, oder in Mönchengladbach und Dortmund. Das Überraschungsmoment fehlt. Betrieb nach Vorschrift und internalisierten Kräfteverhältnissen. Leverkusen bricht irgendwann ein, der FC Bayern fast unschlagbar, der Hamburger SV spielt gegen den Abstieg.
Nun also London mit 20.000 Angereisten, der Trubel rund ums Stadion und verbale Dominanz darin. Der Effzeh spielt defensiv giftig und stabil, führt plötzlich sogar durch einen Fernschuss des 17-Millionen-Manns Jhon Córdoba. Auf der Pressetribüne springe ich in einem Impuls auf brülle. Die Kölner im Stadion toben ungläubig. Unfassbar, Führung beim großen FC Arsenal. Die anderen Journalisten grinsen. Das Märchen des Effzeh könnte weitergehen, doch in Halbzeit zwei folgt ein Schlüsselmoment, der den Rest der Saison beeinflussen wird: Köln könnte die Führung ausbauen, aber Jonas Hector wird im Londoner Strafraum umgesenst. Wir bekommen keinen Elfmeter und Hector verletzt sich schwer.
Kurz vor Schluss singen die Fans in Mundart "denn hier hält man zusammen, egal was auch passiert." Wir verlieren am Ende 1:3. Die Kölner wollen nicht mehr gehen und singen noch lange nach Abpfiff weiter. Videos von den "wilden" Anhängern der "billy goats" in London gehen um die Welt. Wir fahren stolz zurück.
Die Pleitenserie in der Liga geht weiter, und beim ersten Heimspiel im Uefa-Pokal seit 1992 empfangen wir Belgrad. Halbzeit eins unter Flutlicht ist gruselig, die Blöcke brennen lichterloh in rot; die Südkurve, der Gästeblock. In Hälfte zwei kommen Leonardo Bittencourt und Yuya Osako in die Partie, und der Effzeh spielt Roter Stern völlig an die Wand. Das Stadion steht, die Atmosphäre ist aufgeladen, jeden Moment könnte der erste internationale Heimtreffer seit Frank Ordenewitz gegen Celtic Glasgow fallen. Doch das Torgestänge und die unüberwindbare Belgrader Innenverteidigung hat etwas dagegen, wir verlieren 0:1 (0:1). Zweifel über die Konkurrenzfähigkeit der Mannschaft kommen auf.
Es folgt das Abenteuer Weißrussland. Der Flughafen von Minsk sieht aus wie ein Atmosphärenwandler in einem Science Fiction Film, die Stadt aus der Zeit gefallen: Hammer und Sichel überall. Die Polizei löst die Fanparty im teuersten Hotel am Platz in der Nacht vor der Partie bei Borrisow auf. Ein Fan muss ins Gefängnis, weil er auf ein nationales Denkmal uriniert. Das Stadion liegt eine Stunde entfernt mitten im Wald. Das Spiel ist unterirdisch, wieder geht der Gegner in Führung. Die eisige Kälte kriecht in die Klamotten, wieder verlieren wir 0:1. Vorher singen die Ultras "Wir haben die Schnauze voll", "Wir wollen euch kämpfen sehen" – und "Schmadtke raus". Der Großteil des Blocks sieht das anders, schweigt und friert.
Magische Nächte in Müngersdorf
Sportchef Jörg Schmadkte nimmt selbst seinen Hut, dann empfangen wir die Weißrussen in Köln. Nach dem DFB-Pokal-Erfolg bei Hertha BSC beginnt der Effzeh mit gehörig Zug nach vorn. Als Borrisow durch einen Fallrückzieher in Führung und das Heimteam mit Rückstand in die Pause geht, ist das Stadion still. Jeder sieht, dass Köln besser ist, aber was nützt das? Es zeigt sich in furiosen zweiten 45 Minuten. Der Effzeh dreht die Partie mit einem starken Timo Horn im Tor, einem treffsicheren Yuya Osako und Guirassy, der einen traumhaften direkten Freistoß in die Ecke zirkelt. Als in der 90. Minute dann sogar die kleingewachsene Torungefahr Jojic per Kopf trifft, sind das 5:2 (1:2) und die magische Nacht von Müngersdorf perfekt. Auf solch ein Spiel hat mehr als eine Generation Kölner Fans hingefiebert. In der Liga verliert der FC an selber Stelle wenige Tage später desaströs gegen Hoffenheim.
Die Verletztenliste beim FC wird länger, und dann kommt auch noch der FC Arsenal. Wollen wir noch weiterkommen, müssen wir gewinnen. Alles geschieht wie im Drehbuch, wir siegen 1:0 (0:0) und plötzlich wird die Reise auf den Balkan zum "Endspiel". Die Fans, die Pyrotechnik, die politische Aufladung: Von dieser Paarung habe ich geträumt, seit ich Roter Stern im Finale des Landesmeisterpokals 1991 gegen Olympique Marseille gesehen hatte. Zuvor feuert Köln seinen Coach Peter Stöger, Jugendtrainer Stefan Ruthenbeck übernimmt interimsweise. Wir fahren mit 14 Profis nach Belgrad, weil der Rest des Kaders verletzt ist. Wollen wir in die K.o.-Runde, müssen wir gewinnen. Die europäische Watte wird sehr durchlässig.
Auch für Roter Stern wäre ein Weiterkommen der größte Erfolg seit 25 Jahren. Die Brisanz der Kölner Situation wird im "Marakana"-Stadion von Belgrad offenbar, auf dem Rasen und den Rängen zugleich. In der Choreo der Belgrader Kurve schlägt eine Faust den Geißbock K.o. Aus dem Kölner Block fliegt kurz vor Spielbeginn erst Feuerwerk in Richtung der Akteure auf dem Rasen, danach gezielt in die Heimzuschauer. Die schießen zurück. Roter Stern spielt schlecht, aber der Effzeh noch schlechter; die Mannschaft ein Trümmerhaufen, die Einzelspieler völlig ohne Selbstbewusstsein. Eine Torchance reicht den Serben zur Führung. Sie werden sie nicht mehr abgeben.

Die Rakete in der Mitte des Bildes wird direkt hinter der aufgereihten Mannschaft den Rasen treffen.
(Foto: Roland Peters)
Die rund 5000 Kölner Anhänger spalten sich - die Mehrheit brüllt den Pyromanen im eigenen Block "Wir sind Kölner und ihr nicht" entgegen, die reagieren mit abfälligen Gesten. Bis zum Ende der Partie wird niemand mehr mit den Ultras singen. Bei den etwa 47.000 Serben singen jedoch alle, und sie stehen, das gesamte Spiel. Die Atmosphäre ist atemberaubend. In der ersten Halbzeit gibt es nicht eine Möglichkeit für die Kölner, die Heimfans zu übertönen, denn die sind nie still. Und sie haben sich vorbereitet. Der Spott klirrt auf Deutsch in den Ohren: Das ganze Stadion singt "Deutsche Schweine", "Zweite Liga" und mit wachsender Begeisterung "Auf Wiedersehen", auch nach dem Abpfiff noch. Sie wissen wie wir, dieser Abschied wird für viel länger sein als nur diese Saison.
Ein neues Gefühl
Und als der Rauch verzogen ist in Belgrad, die Spieler von Roter Stern mit Bengalos in der Hand tanzend auf der Tartanbahn wieder im Tunnel verschwunden, der Spott verhallt und die Kölner Rumpftruppe vom Platz geschlichen, da überkommt mich ein taubes Gefühl. Als wäre mir ein anderes weggenommen worden. Das also war Europa. So fühlt es sich also an, Fan einer Mannschaft zu sein, die um etwas spielt und nicht nur versucht, irgendwie durchzukommen, nicht abzusteigen, aber nie eine Chance auf mehr hat. Dieses Gefühl kenne ich nun. Nach oben zu gucken statt nur zu hoffen: "Eines Tages, …"; und nicht zitternd nach unten in Richtung Abstiegszone.
Wenn ich mich an Europa erinnere, werde ich an Flutlicht, Nebel und andere Länder denken. An das wilde Fest bei Arsenal London statt konzertiertem Kommerz am Autobahnkreuz München-Nord oder Köln-Nordost. An autokratischen Sozialismus in Minsk statt Autostadt Wolfsburg mit Disko-Torjubel. An Capo "Iwan den Schrecklichen" und Feuerwerksduelle auf dem Balkan statt Cheerleader und Familienblock. Und dabei werde ich nachfühlen, wie knapp wir am Ende ausschieden. Als es einmal doch um etwas Größeres als Bundesliga und DFB-Pokal ging.
Der 1. FC Köln hat mit jahrelanger Arbeit erzwungen, dass er sich wieder auf die Landkarte des europäischen Fußballs setzen darf. Derzeit macht der Klub alles dafür, dass er davon schnell wieder verschwinden wird; als Wirrung der Sportgeschichte, in dieser gegensätzlichen Saison, als Köln im Uefa-Pokal spielte und gegen den FC Arsenal gewann. Und danach wieder in der nationalen Versenkung verschwand.
Quelle: ntv.de