"Collinas Erben" wägen ab Viel neuer Ärger wegen einer alten Regel
11.01.2021, 06:25 Uhr

Taiwo Awoniyi steht nur da. Das darf er.
(Foto: imago images/Nordphoto)
Union Berlin wird im Spiel gegen den VfL Wolfsburg wegen eines vermeintlichen Fouls am Torwart ein Treffer aberkannt. Doch eigentlich liegt keine Regelwidrigkeit vor, denn die Keeper genießen im Torraum schon länger keine bevorzugte Behandlung mehr.
Es war eine kuriose Szene, die sich in der Partie zwischen dem FC Union Berlin und dem VfL Wolfsburg (2:2) nach rund einer Stunde abspielte: Christopher Trimmel schlug den Ball bei einem Eckstoß direkt aufs Tor der Gäste, die Kugel flog an Freund wie Feind vorbei und landete im Unterleib des Berliners Taiwo Awoniyi, der sich auf der Torlinie befand. Von dort prallte sie ins Gehäuse der Wolfsburger. Lange währte die Freude der Gastgeber jedoch nicht, denn Schiedsrichter Patrick Ittrich annullierte den Treffer, der das 3:1 für die Hausherren bedeutet hätte.
Der Unparteiische hatte ein Foulspiel von Awoniyi am Wolfsburger Torwart Koen Casteels wahrgenommen. Der Schlussmann der Niedersachsen stand direkt hinter dem Stürmer, der damit ein Hindernis für den Keeper auf dem Weg zum Ball war. Casteels versuchte noch, die Kugel zu erreichen, indem er seine Arme links und rechts an Awoniyi vorbeiführte, doch er blieb erfolglos. Hatte der Angreifer des FC Union sich in dieser Situation tatsächlich regelwidrig verhalten?
Nein, fand der Berliner Trainer Urs Fischer. "Taiwo steht da, er behindert den Torwart nicht", sagte er gegenüber dem Sender RBB. "Er muss sich nicht in Luft auflösen. Er muss dem Torwart nicht Platz machen." Tatsächlich heißt es im Regelwerk: "Jeder Spieler darf seine Position auf dem Feld selbst bestimmen. Er darf dem Gegner zwar im Weg stehen, sich ihm jedoch nicht in den Weg stellen." Zudem darf ein Spieler "den Ball abschirmen, indem er sich zwischen Gegner und Ball stellt, wenn der Ball in spielbarer Distanz ist und der Gegner nicht mit den Armen oder dem Körper abgedrängt wird".
Torwart genießt keinen besonderen Schutz mehr
Ein klein wenig hatte Awoniyi zwar schon die Arme nach hinten gelegt, aber eher kurz und nicht sehr nachdrücklich. Doch existiert nicht eine Sonderregelung für den Torhüter im eigenen Torraum? Die gab es tatsächlich viele Jahre, doch im Sommer 2012 wurde sie abgeschafft. Auf der Website des DFB ist in einem Beitrag mit dem Titel "Der Torwart und die Fußballregeln" nun zu lesen: "Eine weit verbreitete Meinung auf nahezu jedem Fußballplatz der Republik ist, dass der Torwart in seinem Torraum einen besonderen Schutz genießt. Blickt man ins Regelwerk, stellt man fest, dass dem gar nicht so ist."
Neben dem Schutz, dass der Torwart nicht angegriffen werden darf, wenn er den Ball hält, gebe es keine weiteren Bestimmungen dazu, fährt der Text fort. "Lediglich in den FIFA-Auslegungen findet man noch den Hinweis, dass der Torwart nicht unfair bedrängt werden darf. Dies gilt beispielsweise bei einem Eck- oder Freistoß." Doch wurde Casteels wirklich unfair bedrängt? Eigentlich hat Taiwo Awoniyi weder geschoben noch nennenswert gedrückt, er war bloß im Weg, und als der Ball in die Nähe kam, hat er ihn abgeschirmt – und schließlich im Tor untergebracht.
Für die Anerkennung des Tores hätte es gute Gründe gegeben
Es war ein Verhalten, das der Schiedsrichter vermutlich nicht geahndet hätte, wenn Awoniyis Gegenspieler kein Torhüter gewesen wäre, sondern ein Feldspieler. Denn es kommt häufig vor, dass sich ein Stürmer mit dem Rücken zum Tor befindet und in Erwartung des Balles ein bisschen seinen Körper und die Arme einsetzt, während er von einem hinter ihm befindlichen Verteidiger bedrängt wird, der das Gleiche tut. In solchen Fällen schreiten die Unparteiischen nur ein, wenn es zu einem klaren Halten oder Stoßen kommt. Warum sollte das anders sein, wenn der Gegner des Angreifers der Torwart ist und die Regeln ihm keine besondere Stellung (mehr) gewähren?
Vielleicht, weil er eben doch eine besondere und aufgrund seiner Funktion auch eine exponierte Figur im Fußballspiel ist, die in der Praxis ein bisschen anders behandelt wird und die von den Schiedsrichtern auch mal einen Freistoß bekommt, der für einen Feldspieler nicht unbedingt gepfiffen werden würde. Nicht zufällig reagieren Spieler oft besonders impulsiv, wenn ihr Torwart angegangen wird – das beeinflusst natürlich auch die Regelauslegung und -anwendung der Referees. Selbst wenn die Theorie mittlerweile etwas anderes vorsieht, pfeifen die Unparteiischen bei Zweikämpfen der Schlussleute häufig immer noch kleinlicher.
Daran gemessen ist es verständlich, dass Patrick Ittrich den Zweikampf zwischen Awoniyi und Casteels als unfaires Bedrängen, als Blockieren, regeltechnisch als "Sperren mit Körperkontakt" durch den Berliner bewertet hat. Durch diesen Ermessensspielraum lag auch kein klarer und offensichtlicher Fehler vor, der den Video-Assistenten zum Eingreifen gezwungen hätte. Doch eigentlich gab es hier bessere Argumente dafür, das Tor anzuerkennen. Denn Urs Fischer hat Recht: Awoniyi konnte sich nicht in Luft auflösen und musste dem Torhüter auch nicht freundlich Platz machen. Dafür, sein Zweikampfverhalten als regulär zu bewerten, gibt es gute Gründe.
Berechtigte Eingriffe des Video-Assistenten
So kam Wolfsburg am Ende noch zu einem 2:2, denn nach einem Handspiel von Marcus Ingvartsen im eigenen Strafraum gab es in der 65. Minute einen Elfmeter für die Gäste, den Wout Weghorst verwandelte. Von dem Handspiel hatte auf dem Feld so gut wie niemand Notiz genommen, auch Referee Ittrich nicht. Alle waren von einem Eckstoß ausgegangen, doch der aufmerksame Video-Assistent hatte die Szene überprüft und dabei den sehr schwer zu sehenden, aber dennoch eindeutigen Regelverstoß von Ingvartsen festgestellt.
Eine Viertelstunde zuvor hatte sich der VAR schon einmal eingeschaltet: Als der Wolfsburger Maximilian Arnold durch ein kurzes, aber effektives Halten an der Schulter den enteilten Taiwo Awoniyi zu Fall brachte und der Unparteiische diese Verhinderung einer offensichtlichen Torchance mit einem Strafstoß für Union ahndete, ergab die Überprüfung, dass sich das Vergehen knapp außerhalb des Strafraums ereignet hatte. Patrick Ittrich korrigierte seine Entscheidung deshalb und gab statt des Elfmeters einen Freistoß, den Robert Andrich zum 2:1 verwandelte. Bei der Roten Karte gegen Arnold blieb es jedoch, und das zu Recht.
Was sonst noch wichtig war:
- Viel Arbeit hatte auch Schiedsrichter Bastian Dankert in der Begegnung des 1. FSV Mainz 05 gegen Eintracht Frankfurt (0:2). Zweimal entschied er nach Haltevergehen von Moussa Niakhaté, die nicht leicht zu erkennen waren, berechtigterweise auf Strafstoß für die Gäste, beide Elfmeter verwandelte André Silva. Auch für Mainz gab es zwei Strafstöße, doch die riefen jeweils den VAR auf den Plan: Der Frankfurter Djibril Sow spielte in der 60. Minute klar und ausschließlich den Ball und traf nicht den Kopf von Leandro Barreiro, wie Dankert zunächst dachte. Das strafbare Handspiel des Frankfurters Almamy Touré wiederum trug sich außerhalb und nicht innerhalb des Strafraums zu. Deshalb korrigierte der Unparteiische zu Recht seine Entscheidungen.
- Nur ganz leicht mit den Fingerkuppen berührt hat Florian Neuhaus den Ball nach 19 Minuten im Spiel Borussia Mönchengladbach – FC Bayern München (3:2) im eigenen Strafraum. Da aber seine Hand eindeutig zum Ball ging, lag ein strafbares Handspiel vor, auch wenn der Kontakt bloß geringfügig war. Weil Schiedsrichter Harm Osmers das auf dem Feld nicht erkennen konnte, empfahl der VAR mit Recht ein Review, worauf ein Elfmeter folgte, den Robert Lewandowski zum 0:1 verwandelte. Beim 0:2 stellte sich die Frage, ob Torschütze Leon Goretzka den Ball bei der Annahme mit dem Arm gespielt hatte. Die Bilder gaben keinen eindeutigen Aufschluss, deshalb erhob der Video-Assistent keine Einwände. Auch das war richtig, weil kein klarer und offensichtlicher Fehler des Unparteiischen vorlag.
Quelle: ntv.de