Lehren aus der WM-Auferstehung DFB-Elf will's, Löw kann's, Werner macht's
24.06.2018, 14:10 Uhr
Die deutschen Nationalspieler bejubeln ihren Siegtreffer.
(Foto: imago/ITAR-TASS)
Initialzündung? Wendepunkt? Hauptsache gewonnen: Bei der Erlösung gegen Schweden zeigen DFB-Team und Trainer ungeahnte Qualitäten. Werner brilliert als Umschüler, Kroos als Dramatiker. Nun keimt zarte WM-Zuversicht.
1. Das Spiel muss die Wende sein
Mats Hummels hatte sich nach dem 2:1-Drama seines DFB-Teams gegen Schweden wohlweislich zurückgehalten. Ob dieser Sieg im zweiten Spiel der Gruppe F bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland eine Initialzündung sei, wurde er am späten Samstagabend im Bauch des Fisht-Stadions in Sotschi wie eigentlich jeder auskunftsbereite DFB-Kicker gefragt. Der gegen Schweden verletzte Innenverteidiger antwortete ebenso knapp wie klar, er sagte nur: "Hoffentlich." Die Einschätzung ist nicht ganz weltfremd. Die wenig positiven Eindrücke nach dem "Fiasko Mexicana" wirken bei Trainer und Team immer noch nach. "Ich hoffe nur Positives", sagte Kapitän Manuel Neuer zur Wirkung des Last-Minutes-Siegs in Unterzahl und gab zu bedenken: "Man hätte auch sagen können, dass das 1:0 von Mexiko viel bewirken kann. Aber wir sind schon wieder einem Rückstand hinterhergelaufen, was dann wieder nicht leicht war." Man bekomme nichts geschenkt, müsse sich alles erarbeiten.
Er sagte aber auch: "Ich glaube daran, dass das eine Wirkung hat, was hier passiert ist, gerade für die Mannschaft. Das war ein erster wichtiger Schritt." Der Glaube des Teams, eine Turniermannschaft zu sein, ist vorerst ein zartes Pflänzchen, das südkoreanische Abwehrbeine im letzten Gruppenspiel zertrampeln wollen. "Natürlich eine Vorlage, um gute Gefühle mitzunehmen", sagte Traumtorschütze Toni Kroos nach dem Schwedenkrimi. Kein Grund, sich zurückzulehnen: "Trotzdem haben wir am Mittwoch wieder ein K.-o.-Spiel, und da müssen wir wieder da sein." Am prägnantesten formulierte das der auch nach dem Spiel noch überragende Timo Werner: "Das muss der Wendepunkt gewesen sein. Wenn wir die Steilvorlage jetzt nicht annehmen und damit durchs Turnier reiten, hat das ganze Spiel nichts gebracht."
2. Bundestrainer Löw reagiert auf den Druck
Es machte den Eindruck, als sei das seine Art, den Druck zu verarbeiten. Joachim Löw zeigte sich gegen die Schweden engagiert wie selten zuvor an der Seitenlinie. Immer wieder sprach er auf Höhe der Mittellinie mit den Spielern, die sich in kurzen Spielunterbrechungen ein Getränk holten. Der Bundestrainer coachte, das lässt sich ohne Übertreibung feststellen, engagiert wie selten zuvor. Was das gebracht hat, lässt sich nicht messen. Und die Kritik, dass er nicht ins Spiel eingegriffen habe, traf ihn auch erstmals in dieser Wucht nach der Auftaktniederlage gegen Mexiko. Bei der titelgekrönten WM in Brasilien hatte sich niemand über den Löw'schen Trainerstil aufgeregt.
Unzweifelhaft zu beobachten aber ist, dass er unter Druck steht, bei den Pressekonferenzen wirkt er angespannt. Eigentlich muss er als Weltmeister niemandem mehr etwas beweisen. Aber als erster Trainer des DFB in die Geschichte einzugehen, der mit einer Auswahl in der Vorrunde einer WM scheitert - das wäre auch ihm, dem nach außen so gelassenen Genießer, an die Nieren gegangen. Als Angreifer Timo Werner nach dem Krimi im Fisht-Stadion gefragt wurde, ob Löw sich verändert habe oder so sei wie immer, und wie er nach dem Rückstand zur Pause in der Kabine reagiert habe, sagte er: "Er ist schon lauter geworden, aber nicht negativ, sondern positiv." Löw hat gemerkt, dass die DFB-Elf bis zum Gegentor gut im Spiel war, danach aber nicht mehr. Und "dass es halt ein Fehler war, der dann zum Tor geführt hat." Ein Fehler von Toni Kroos. Aber das, sagte Werner, seien die Momente, die es nur im Fußball gebe, "dass Toni dann genau der, der erst den Fehlpass spielt, das Ding dann oben in den Winkel schlägt." Fest steht: Dieser Freistoß hat auch Löw ein wenig vom Druck befreit.
3. Ein Weltmeister würde dem Abwehrspiel gut tun
Gegen Schweden war es Weltmeister Mats Hummels, der fehlte. Trotz intensiver Verhandlungen mit der medizinischen Abteilung konnte der Weltmeister keine Freigabe für das zweite Vorrundenspiel erwirken, eine aufgebrochene Halswirbelverletzung zwang Hummels zum Aussetzen und verhalf Antonio Rüdiger zum WM-Debüt: "Ich bin natürlich nicht der, der Medizin studiert hat. Deswegen füge ich mich am Ende immer dem ärztlichen Rat." Gegen Südkorea am Mittwoch (ab 16 Uhr im Liveticker bei n-tv.de) möchte Hummels wieder dabei sein, Genesung und Verhandlungen laufen parallel, und es wäre enorm wichtig für die neu entstehende deutsche Abwehrbalance. Denn gegen Südkorea wird es Weltmeister-Kollege Jérôme Boateng sein, der definitiv fehlt - weil er zwar mit Glück keine Rote, aber später mit Recht eine Gelb-Rote Karte kassiert hat.
Um Selbstbewusstsein und Stabilität der DFB-Defensive vor dem bärenstarken DFB-Titan Manuel Neuer stand es auch gegen Schweden nicht ums Allerbeste. Wenigstens ein Weltmeister in der Viererkette gegen Südkorea wäre eminent wichtig für Selbstverständnis und Stabilität der Defensive und den deutschen Spielaufbau, in dem Hummels und Boateng ganz wichtige Kroos-Assistenten sind. Im wieder möglichen WM-Achtelfinale dürfen es deshalb auch wieder gern beide zusammen sein in der Innenverteidigung.
4. Werner spielt sich auf der linken Seite fest
Timo Werner oder Mario Gomez hieß er bisher stets, wenn es um die Besetzung des deutschen WM-Angriffs ging, mehr waschechte Sturmoptionen hat der Bundestrainer nicht mit nach Russland genommen. Und bisher hatte der 22 Jahre alte Leipziger Startelf-technisch die Nase vorn gehabt. Nach der zweiten Halbzeit gegen Schweden, diesem Sieg des Wollens in Unterzahl, bietet sich eine neue Option: einfach mal beide spielen lassen. Und das nicht als Doppelspitze, die es im DFB-Team gefühlt zuletzt 2006 beim WM-Achtelfinalsieg gegen Schweden mit dem Klose-Podolski-Sturm gegeben hatte. Sondern mit Gomez als Fixpunkt in der Mitte und Werner als Möglichmacher auf der linken Seite.
Der nach der Pause umgeschulte Leipziger überragte auf dem linken Flügel, ging immer wieder ins Dribbling, brach immer wieder durch - und trug damit fast allein die deutschen Hoffnungen auf ein Last-Minute-Happy-End: "Mit dem Gefühl, dass Timo Werner über links jeden ausspielen konnte heute, haben wir die ganze Zeit dran geglaubt", lobte Kollege Hummels: "Es wurde jedes Mal brandgefährlich, wenn er im Spiel war und deshalb ist es nicht überraschend, dass er den Freistoß da rausgeholt hat." Der so Gelobte sagte nach dem Spiel nur lässig: "Das war mein Auftrag. Ich glaube, es ist zweimal gut gelungen, dadurch sind zwei Tore gefallen. Von daher kann ich heute ruhig schlafen." Und ruhig auf links weiterwirbeln.
5. Özil und Khedira bekommen wieder ihre Chance
Klar hatte der Bundestrainer die Mannschaft vor dem Spiel gegen Schweden verändert, es ging ja gar nicht anders. Hummels konnte nicht spielen, weil er angeschlagen war. Also rückte Antonio Rüdiger neben Boateng in die Startelf. Niklas Süle hätte das auch gekonnt, aber Löw erklärte, Rüdiger sei es gewohnt, "auf der linken Innenverteidigerposition zu spielen". Im Training habe er überzeugt und einen "sehr aggressiven Eindruck hinterlassen". Linksverteidiger Jonas Hector konnte wieder, da er seine Erkältung auskuriert hatte. Also musste Marvin Plattenhardt wieder weichen. So weit, so erwartbar. Dass der Trainer allerdings mit Sami Khedira und Mesut Özil zwei Weltmeister auf die Bank verbannte, das war eine Ansage. Zumal sie dort auch das ganze Spiel über blieben. Khedira hatte gegen Mexiko enttäuscht. Aber er gehört zu denen in der DFB-Elf, die den Status Führungsspieler öffentlich für sich reklamieren. Er gilt als Löws Vertrauter. Vor der Partie gegen Schweden hatte er gesagt: "Ich weiß, dass ich nicht gut gespielt habe. Es zählen aber keine Einzelschicksale. Es geht nicht um Namen. Ich habe kein so großes Ego, zu sagen, ich muss unbedingt spielen." Das tat in Sotschi Sebastian Rudy statt seiner auf der Position des Sechsers neben Toni Kroos. Er überzeugte mit Ballsicherheit, Übersicht und Ruhe, bis er nach einer guten Stunde mit gebrochener Nase ausgewechselt werden musste. Ilkay Gündogan konnte sich danach nicht unbedingt rückhaltlos empfehlen.
Auch Özil ist einer, auf den der Bundestrainer normalerweise zählt. Seit der WM 2010 hatte er ihn 26 Mal in Folge bei Welt- und Europameisterschaften von Beginn an spielen lassen. Er musste letztlich für Marco Reus die Zentrale im offensiven Mittelfeld räumen. Der erzielte kurz nach der Pause den Ausgleich, war einer der besten Spieler seines Teams und dürfte auch gegen Südkorea zu denen gehören, die beim Anpfiff auf dem Platz stehen. Was bedeutet das für Özil und Khedira? Manager Oliver Bierhoff sagte nach dem Spiel in der ARD: "Beide sind verdiente Spieler, wir kennen ihre Stärken, sie sind keinesfalls abgeschrieben." Das klingt erst einmal nach einem Allgemeinplatz, doch die Beiden werden in Russland noch ihre Chance bekommen, so die Deutschen denn noch länger im Turnier bleiben. Löw sagt: "Es ist ja logisch, dass nicht immer die eine Mannschaft spielt. So ist ja auch der Kader angelegt, dass wir die Möglichkeiten ausschöpfen können."
6. Die Mannschaft ist ein wenig beleidigt
Toni Kroos ist Weltmeister, er hat mit Real Madrid dreimal die Champions League gewonnen, und er muss sich nicht nachsagen lassen, sich seiner Fähigkeiten auf dem Fußballplatz nicht bewusst zu sein. Dennoch ist er in diesem Tagen nicht ganz glücklich. Nicht etwa, weil er am Sonntag mit einem dummen Ballverlust das Tor der Schweden einleitete. Sondern weil er argwöhnt, dass sich in der Heimat einige freuen würden, wenn die Mannschaft in der WM-Vorrunde scheitern würde. Wie Thomas Müller macht er den Eindruck, ein wenig beleidigt zu sein. Der Kollege hatte sich in dieser Woche ebenfalls über zu viel Häme und zu wenig Unterstützung beklagt. Dabei hatte er versucht, die mit nach Russland gereisten Journalisten ins Boot zu holen: "Wir wünschen uns doch alle, dass wir noch mehrere Wochen im Spiel sind." Kroos maulte nun in Sotschi in die gleiche Richtung: "Wir wurden viel kritisiert, teilweise auch sicher zurecht", sagte er in der ARD. Sein Eindruck: "Relativ viele Menschen in Deutschland hätte es gefreut, wenn wir raus wären." Aber: "So leicht machen wir es ihnen nicht." Der Kollege Reus bestätigte später diesen Eindruck: "Da gebe ich dem Toni schon Recht." Auf die Leistung bei dieser WM könnte sich das positiv auswirken. Stichwort: Wagenburg. Wir gegen alle - dieses Motto hat schon so manche Fußballmannschaft motiviert. Später am Samstagabend präzisierte Kroos dann, dass dies keine Fan-Schelte sein sollte. Angesprochen fühlen dürften sich die Experten im Fernsehen und "alle, die schreiben". Sein Eindruck sei: "Es macht viel mehr Spaß, schlecht über uns zu schreiben oder über uns zu reden oder über uns zu analysieren, als andersrum", sagte Kroos: "Wenn das Gefühl falsch ist, tut‘s mir leid." Richtig glücklich ist er nicht.
Quelle: ntv.de