Spiele der falschen Versprechen "12 Milliarden für Olympia in Rio? Ein Witz"
05.08.2016, 10:00 Uhr
Nicht ganz preiswert, die Neubauten der Olympischen Sportanlagen.
(Foto: dpa)
Die olympische Bewegung steckt ganz tief im Schlamassel, sagt der Politikwissenschaftler Jules Boykoff. Dennoch erwartet er in Rio "großartige" Spiele - sofern man sich nur auf den Sport konzentriert. Sein Gesamtzeugnis fällt vernichtend aus, IOC-Boss Thomas Bach empfiehlt er, sein Luxushotel zu verlassen und sich mit den Bürgern Rios zu unterhalten. Die olympische Zeitlupenkrise sieht Boykoff dennoch als Chance - weil Bach den Zwang zum Wandel verstanden habe.
n-tv.de: Als Thomas Bach vergangene Woche in Rio de Janeiro eingetroffen ist, vermeinte er schon am Flughafen die "olympische Energie" zu fühlen. Was haben sie bei Ihrer Rückkehr nach Rio gespürt?
Jules Boykoff: Nun, vor allem eine enorme Präsenz von Sicherheitskräften. Das war offensichtlich und hat sich doch sehr stark intensiviert, seit ich im Herbst 2015 für fünf Monate in Rio gelebt habe. Wenn Bach also gute olympische Schwingungen spürt, sollte er mal rausgehen und mit den Bewohnern der Olympiastadt sprechen. Dort glauben laut jüngsten Umfragen zwei Drittel, dass die Spiele mehr Schlechtes als Gutes bringen. Es gibt doch einen massiven Unterschied zwischen den Luxussuiten, die Thomas Bach bewohnen wird, und den Straßen wo die normalen Leute leben.
Was erwarten Sie für die ersten Olympischen Spiele in Südamerika: großen Erfolg oder grandioses Scheitern?
Wenn wir allein auf den Sport schauen, werden wir tolle Dinge erleben. In vielen Sportarten sind die besten Athleten der Welt am Start, das wird sicher großartig.
Und abseits des Sports?
- Jules Boykoff gehörte einst zum Olympia-Team der US-Fußballer, heute lehrt der 45-Jährige an der Universität Portland Politikwissenschaften.
- Im Mai 2016 ist sein Buch "Power Games - eine politische Geschichte der Olympischen Spiele" erschienen.
- Während der Recherchen hat er fünf Monate in Rio de Janeiro gelebt und dabei die Olympia-Vorbereitungen vor Ort miterlebt.
Wenn wir unseren Blickwinkel etwas weiten, was glaube ich intellektuell sehr gesund ist, um ein kompletteres Bild der Spiele zu bekommen, sind die Aussichten nicht mehr so rosig. 77.000 Leute wurden zwangsumgesiedelt, es gibt eine massive Militarisierung der Stadt, unzählige gebrochene Versprechen besonders in Bezug auf die Umwelt und dann diese hohen Kosten. Egal, wen Sie in der Stadt fragen würden: Was halten Sie davon, zwölf Milliarden Euro für Olympische Spiele auszugeben? Fast jeder, ob er Sport mag oder nicht, würde sagen: Es ist ein Witz, angesichts echter Probleme, wenn Krankenhäuser geschlossen, soziale Leistungen zurückgenommen werden. Das ist der Konsens auf den Straßen von Rio.
Was war verstörender für Sie: Sich für Ihr Buch "Power Games" tief in die schmutzige Geschichte der Olympischen Spiele hineinzugraben oder all die Fehlentwicklungen der Spiele in Rio direkt mitzuerleben?
Was ich hier in Rio beobachten konnte, würde ich als Fortsetzung der olympischen Trends im 21. Jahrhundert bezeichnen. Die historische Auseinandersetzung mit den Spielen hat mich gut auf das vorbereitet, was ich dann ab August in Rio erleben konnte. Aber es ist einfach, mit dem Finger auf Rio zu zeigen und zu sagen: Oh, es ist Rios Fehler. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Organisatoren haben die ganze Zeit über eine erstaunliche Arroganz an den Tag gelegt, dazu zahlreiche Lügen, verdrehte Tatsachen und Irreführungen. Aber damit liegen die Rio-Spiele gewissermaßen im Trend.
Die Spiele in Rio sollten ursprünglich zu den "Transformations-Spielen" werden. Welches Label würden Sie jetzt vergeben?
Man könnte sagen, es sind die "Spiele der falschen Versprechen". Es gibt einfach so viele Beispiele, angefangen beim Wasser, das gereinigt werden sollte über die 1,2 Millionen Tickets, die Bürgermeister Eduardo Paes den normalen Leute in Rio versprochen hatte. Jetzt sieht es laut eines Berichtes der Associated Press danach aus, als ob es nur 47.000 werden. Und was ist mit den Bäumen, die gepflanzt werden sollten? Die Liste geht immer weiter.
Gibt es auch irgendetwas Positives?
Einige der Transportentwicklungen sind positiv wie die Metrolinie 4 - auch wenn ich nicht sicher bin, ob das wirklich die Top-Priorität für die größere Rio-Region war. Aber lassen Sie uns abwarten, was noch während der Spiele passiert. Rio hat eine starke Tradition, auf demokratische Weise aufzustehen gegen solche Ausbeutungen. Vielleicht wird ein weiteres Erbe der Spiele, dass Dissens in prinzipientreuer, friedlicher Weise ausgedrückt wird.
Vor der Weltmeisterschaft 2014 gab es Massenproteste mit Millionen Brasilianern auf der Straße. Warum nicht diesmal auch?
Zu den Protesten 2013 und 2014 muss man wissen, dass die Polizei diese Bewegungen massiv unterdrückt hat, indem jeder mit Tränengas attackiert wurde - ob er ein Aktivist war oder nicht. Das hat viele Aktivisten aus der Mittelklasse überzeugt, sich lieber von der Straße fernzuhalten.
"Power Games" ist eine schockierend ernüchternde Darstellung der engen Verstrickungen zwischen Sport, Politik und Wirtschaft und davon, wie wenig demokratische Prinzipien in der olympischen Welt zählen. Wie sehr hat Ihr Enthusiasmus für Olympia dadurch gelitten?
Es hat mir in gewisser Weise die Naivität genommen. Aber wir müssen uns nicht von Komplexität verabschieden, wenn wir über die Olympics sprechen. Wir können Athleten bejubeln, anerkennen, was sie zu Olympia beitragen, und gleichzeitig scharf Kritik an den Ungleichheiten äußern, die die Spiele erzeugen. Ehrlich gesagt: Als ich mir erlaubt habe, mich der starken Anziehungskraft des Olympia-Mythos zu entziehen, sind die Olympischen Spielen viel interessanter für mich geworden als soziales, politisches und wirtschaftliches Phänomen.
In der Vergangenheit gab es verschiedene Versuche, alternative Spiele zu etablieren. Gibt es eine Chance, dass das wieder passiert?
Die Olympischen Spiele wirken manchmal wie ein Trutzburg, die man unmöglich ändern kann. Aber die politische Geschichte der Spiele zeigt, dass das einfach nicht wahr ist. Es hat lebhafte Alternativen gegeben, initiiert von Aktivisten, Arbeitern, Frauen. Im Moment sind die Gay Games ziemlich groß in Amerika. Der Horizont kennt keine Grenzen, wenn es um die Einbildungskraft von Aktivisten und ihrem Willen geht, sich für Wandel einzusetzen.
Vor 80 Jahren unterwarf sich das IOC dem Naziregime in Berlin - ein Wendepunkt der olympischen Bewegung, weil sie erstmals offensichtlich politisch wurde. Wie politisch werden diese Rio-Spiele?
Richtig, 1936 wurde den Spielen der Deckmantel des Unpolitischen komplett entrissen. Die Idee, dass Olympia unpolitisch ist, ist immer noch ein Märchen, das sich die olympischen Bosse und Preistreiber gegenseitig erzählen, um sich angesichts ihrer Eskapaden besser zu fühlen. Aber wir erleben, dass immer mehr Augen für die wahren Zustände geöffnet werden. Und ich denke, es verheißt Gutes, dass mehr und mehr Leute die Olympischen Spiele heutzutage durch einen politischen Blickwinkel betrachten.
Als Thomas Bach 2013 zum IOC-Präsidenten gewählt wurde, empfahl uns Ex-Wada-Chef Richard Pound in einem Interview, einfach zu versuchen, stolz auf einen Landsmann als wichtigster Sportführer zu sein. Drei Jahre später: Was empfehlen Sie uns bezüglich Bach?

Jules Boykoff sagt über Thomas Bach: "Ich denke, er hat noch viel Zeit, sein Vermächtnis völlig zu zerstören."
(Foto: dpa)
Wow, das scheint zunächst mal ziemlich anti-olympisch in dem Sinne, dass es für hohe olympische Tiere wie Pound normalerweise nicht um Nationen geht, sondern die größere Bewegung. Aber: Thomas Bach hat sich einer sehr schwierigen Situation gegenübergesehen. Die Olympischen Spiele sind in einer Zeitlupenkrise. Die cleversten Leute dort sind sich dessen bewusst und ich glaube, Bach ist einer von ihnen. Sie haben zumindest schon Gesten in Richtung eines Wandels gemacht mit der Olympischen Agenda 2020. Es mögen nur eine Reihe von Empfehlungen sein, keine voll ausformulierten Strategien. Aber sie deuten für mich darauf hin, dass die Spiele sich in die richtige Richtung bewegen könnten. Immer weniger Städte spielen das Spiel um die Ausrichtung von Spielen mit. Und Leute wie Thomas Bach begreifen das und auch, dass sie Olympia reformieren müssen.
Werden Sie es auch tun?
Das hoffe ich. Sie stecken wirklich tief im Schlamassel und müssen etwas tun, um ihre "Marke" zu schützen, wie sie sagen würden. Wir brauchen aber keinen oberflächlichen, sondern signifikanten Wandel, der normalen Leute in der Ausrichterstadt zugutekommt, nicht nur den olympischen Eliten. Gerade ist es schwierig, sich einen solchen Wandel vorzustellen, aber ich glaube daran für die Zukunft. Diese Zeitlupenkrise ist eine Chance.
Nach der IOC-Entscheidung, Russland nicht von den Rio-Spielen auszuschließen, Julia Stepanowa aber schon, sagen viele Kritiker: Bachs Vermächtnis als IOC-Präsident ist bereits zerstört. Sie auch?
Ich denke, er hat noch viel Zeit, um es völlig zu zerstören. Ich persönlich halte es für richtig, Russland nicht komplett auszuschließen. Das wäre eine Kollektivstrafe gewesen, die gemäß der Genfer Konvention verboten ist und auch ganz allgemein unethisch. Trotzdem trieft die Entscheidung natürlich vor Widersprüchen mit ihrem erstaunlichen Doppelstandard, der jetzt für Olympia angewendet wird: Den, frühere russische Doper zu sperren, Ex-Doper aus anderen Ländern aber nicht. Und dabei Whistleblowerin Julia Stepanowa mit vor den Bus zu stoßen, ist völlig unfair.
Einer der wenigen Athleten, die die IOC-Entscheidung offen kritisiert haben, war der deutsche Diskuswerfer Robert Harting. Warum ist der politische Athlet so eine seltene Spezies, wenn der Sport selbst so hochpolitisch ist?
Das ist eine interessante Frage. Ich denke, es liegt zum Teil daran, dass viele Olympiateilnehmer eine Menge zu verlieren haben, wenn sie offen reden. Besonders, wenn sie weniger populäre Sportarten betreiben und nicht viel Geld verdienen. Dann könnte so etwas das Karriereende bedeuten. Aber wie der britische Fechter Laurence Halsted betont: Sportler müssen ihr Gehirn nicht in der Garderobe abgeben. Es ist möglich, auf höchstem Level Sport zu treiben und sich offen gegen Ungerechtigkeiten auszusprechen. Ich glaube, viele Sportler haben den Mut, den Grips und den Hintergrund, das bei den diesen Spielen zu tun. Es wird interessant sein, zu sehen, wer es auch wirklich tut.
Mit Jules Boykoff sprach Christoph Wolf
Quelle: ntv.de