Heftige Kritik an IOC-Entscheidung "Realitätsverlust" stellt ganzes System bloß

Das Startrecht für russische Athleten bei Olympia sorgt für viel internationale Kritik.

Das Startrecht für russische Athleten bei Olympia sorgt für viel internationale Kritik.

(Foto: dpa)

Das Internationale Olympische Komitee hat sich gegen eine klare Empfehlung der Wada entschieden. Anti-Doping-Kämpfer kritisieren die Entscheidung hart und fürchten, dass die sich auftuende "Glaubwürdigkeitslücke des Sports" nicht mehr zu überbrücken sei.

Der Schlag ins Gesicht der Wada und der nationalen Anti-Doping-Agenturen hätte kaum härter sein können. Nach dem IOC-Beschluss, trotz des entlarvenden McLaren-Reports auf einen Komplett-Ausschluss der russischen Olympia-Mannschaft bei den Spielen in Rio de Janeiro (5. bis 21. August) zu verzichten, sehen sich die Verfechter des sauberen Sports mit einem verheerenden Signal konfrontiert. Anti-Doping-Kampf darf zwar stattfinden - doch wie das Internationale Olympische Komitee selbst mit wasserdichtesten Beweisen umgeht, ist allein Sache der hohen Herren in Lausanne.

Thomas Bach steht für seine Entscheidung stark in der Kritik.

Thomas Bach steht für seine Entscheidung stark in der Kritik.

(Foto: AP)

"Der McLaren-Report hat gezeigt, wie schnell und wie viel Anti-Doping möglich ist. Binnen 57 Tagen war ein Staatsdoping aufgedeckt. Das ist der Lackmustest dafür, was möglich wäre, wenn ein Antidoping-Kampf gewollt wäre", sagte Ines Geipel, Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe. Sie klagte das höchste internationale Sportorgan und dessen Präsidenten unverhohlen an: "Wenn Thomas Bach und das IOC diese starken und klaren Wada-Empfehlungen ignorieren und die Interessen der Athleten ignorieren, dann ist das ein Stück weit Realitätsverlust." Diese "Glaubwürdigkeitslücke des Sports" sei nun nicht mehr zu überbrücken, fügte Geipel an.

Weniger fatalistisch zeigte sich Präsident Alfons Hörmann vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) im Interview mit dem Sportinformationsdienst. "Wenn aus der aktuellen Situation endlich die wichtigen Lehren gezogen werden, kann aus der echten Krise auch eine große Chance werden", sagte der 55-Jährige.

"Prinzipen des sauberen Sports untergraben"

Was aber bleibt, ist nicht einmal zwei Wochen vor der Eröffnungsfeier im Maracana eine Quasi-Entmündigung der Welt-Anti-Doping-Agentur und ihrer nationalen Ableger. "Die Wada ist enttäuscht, dass das IOC nicht dem Rat des Wada-Exekutiv-Komitees gefolgt ist. Der McLaren-Report hat zweifellos ein staatlich organisiertes Doping-Programm in Russland bloßgestellt, das ernsthaft die Prinzipien eines sauberen Sports im Rahmen der internationalen Anti-Doping-Regeln untergräbt", sagte Wada-Präsident Craig Reedie.

Der Schotte musste am Sonntag in seiner Nebenfunktion als Council-Mitglied des IOC ohne Stimmberechtigung mit ansehen, wie seine Mitstreiter die Empfehlungen des vielbeachteten und fundierten Reports ignorierten. Dieser hatte am vergangenen Montag eindeutige Beweise für ein staatlich gelenktes, kontrolliertes und überwachtes Dopingsystem zwischen 2011 und 2015 in Russland geliefert.

Bestürzt reagierten auch die Nationalen Anti-Doping-Agenturen, von denen 14 in einem Brief an Bach die Sperre sämtlicher russischer Sportler gefordert hatten. Die deutsche Nada sprach von einem "fatalen Signal" und einer "Schwächung des Anti-Doping-Systems". Der Hauptkritikpunkt: Die Fachkompetenz der Welt-Anti-Doping-Agentur und der Nationalen Anti-Doping-Organisationen würden außen vor gelassen. Es stellt sich die Frage, inwiefern das aktuelle Anti-Doping-System noch eine Zukunft hat.

Neuaufstellung des Anti-Doping-Kampfes

Governance-Expertin Sylvia Schenk von Transparency International Deutschland regte im Gespräch mit dem SID "eine völlige Überarbeitung und Neuaufstellung des Anti-Doping-Kampfes im internationalen Spitzensport" an. Ein Problem liege auch bei den Agenturen selbst, erklärte die 64-Jährige: "Die Anti-Doping-Agenturen wollten doch nur ihr gescheitertes System retten. Sie haben doch nicht einmal ihre Labore und Kontrollen im Griff."

Doch auch kurzfristig stellen sich Fragen: Was sind Dopingtests in Rio überhaupt wert, wenn bereits jetzt nach Gutdünken entschieden wird? In welchem anderen Licht als in dem eines mutmaßlichen Betrügers wird jeder russische Medaillengewinner in Rio von der Konkurrenz angesehen werden? Und wie sollen die Sport-Fachverbände innerhalb weniger Tage "richtige" Entscheidungen treffen, wenn sich das IOC seiner Verantwortung entzieht?
Bach hatte jüngst die Gründung einer unabhängigen Agentur angeregt. Bis zu den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang 2018 solle "unabhängig von den einzelnen Sport-Dachverbänden getestet und sanktioniert werden", hatte er erklärt. Ziel sei es, eine weltweite und sportartenübergreifende "Harmonisierung" zu erzielen. Klingt alles gut. Allein: Wer garantiert, dass das IOC unter diesen Umständen nicht wieder einen Alleingang starten würde?

Quelle: ntv.de, Marco Heibel, sid

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