Technik

"Krieg vor deiner Haustür" Ein Spiel des nackten Überlebens

Die im Spiel verwendeten Fotos der Charaktere sind die Gesichter der Entwickler - Katia musste sterben, weil keine Antibiotika aufzutreiben waren.

Die im Spiel verwendeten Fotos der Charaktere sind die Gesichter der Entwickler - Katia musste sterben, weil keine Antibiotika aufzutreiben waren.

(Foto: Deep Silver)

Wie überleben Zivilisten einer Stadt, über die der Krieg kommt? Je länger eine Partie dauert, desto mehr kriecht das Grau des Spiels in die Gedanken. "This War of Mine" ist wegweisend. Auf bedrückende Weise zeigt es, wozu das Medium in der Lage ist.

Lust am Töten: Diese Motivation wurde noch vor wenigen Jahren vielen Spielern vorgeworfen. Für Außenstehende klang das nicht so abwegig. In "Return to Castle Wolfenstein" ging es gegen magieversessene Nazis, bei "Left 4 Dead" im Teamverbund gegen Zombiehorden und Activision lässt sich für die "Call of Duty"-Reihe jedes Jahr etwas Neues einfallen, um Spieler durch einen Ballerparcours zu schicken. Alle formulieren eine Aufgabe gleich: mit Waffengewalt überleben. Oder durch sie zu sterben.

Seit einiger Zeit aber regt sich etwas im vergleichsweise jungen Massenmedium des digitalen Spiels. In Titeln wie "Don't Starve", "The Long Dark", "Amnesia", "Outlast" oder "Alien: Isolation" ist der Spieler plötzlich auf sich allein gestellt und kommt mit Waffen nur begrenzt weiter in Richtung seines Ziels. Häufig ist der Spieler machtlos, die Protagonisten müssen andere Wege des Überlebens finden. Und kaum ein Entwickler geht so offensiv mit diesem Ansatz um wie die Macher von "This War of Mine".

Im Haus ein Leben versuchen: Der Spieler kümmert sich um Zivilisten im Krieg.

Im Haus ein Leben versuchen: Der Spieler kümmert sich um Zivilisten im Krieg.

(Foto: Deep Silver)

Schon das Bild auf der Verpackung verrät, was den Spieler erwartet: "Im Krieg ist nicht jeder Soldat" ist dort unter dem Schriftzug zu lesen. Nach der Installation beginnt der fast waffenlose Kampf nach einem Klick auf das Wort "Survive", nicht "Start" oder "Play". Dies hielten die Entwickler der polnischen 11 Bit Studios offenbar nicht für angebracht.

Was passiert, wenn der Krieg über eine Stadt kommt? Wenn plötzlich jeder Zentimeter Macht bedeutet? Wenn Mauern vom Artilleriefeuer erzittern und nachgeben? Wenn der Mensch Hunger leidet, ihm kalt ist, er krank wird? Wenn es an allem fehlt - außer an Misstrauen, Hass und Tod? Diese Fragen stellt "This War of Mine" implizit. Und gibt explizite Antworten.

Da ist diese Gruppe. Sie versucht zu überleben und klammert sich an die in Friedenszeiten geschätzten Werte. Doch sich nur in ihrem Haus zu verschanzen, das funktioniert nicht. Sich in Hass zu baden auch nicht. Die bis zu fünf Charaktere haben Bedürfnisse. Vor allem haben sie Hunger. Und sie brauchen etwas, um sich zu erholen. Erholen von den nächtlichen Beutezügen durch die zerstörte Stadt Pogoren. Bei Sonnenlicht ist es zu gefährlich, Scharfschützen lauern und bestrafen jede Bewegung mit dem Tod. Ob nachts oder tagsüber, das ergibt in Pogoren ohnehin keinen großen Unterschied. Die dortige Welt besteht aus Grautönen. Farben sind nur zu erahnen.

"This War of Mine" macht zu keinem Zeitpunkt und bei kaum einem Element einen Hehl aus seiner Stoßrichtung: "Fuck the War" steht am Eingang der Behausung. Es ist die Emotion des permanenten Mangelzustands. Wer zuerst auf Gewalt setzt, verliert.

Tamagotchi-Trigger im Krieg

Jede Nacht dieselben Fragen: Wer geht auf Streifzug? An welchem Ort könnten die nötigsten Waren zu finden sein?

Jede Nacht dieselben Fragen: Wer geht auf Streifzug? An welchem Ort könnten die nötigsten Waren zu finden sein?

(Foto: Deep Silver)

Pavle, der Ex-Fußballer, kann besonders schnell rennen. Also wird er bevorzugt auf die nächtlichen Streifzüge geschickt. Denn nicht immer hat der Spieler eine Wahl. Will er seine Gruppe schützen, braucht er mindestens etwas zu essen. Beizeiten zu stehlen ist so gut wie unausweichlich. Zu selten sind Nahrungsvorräte, zu knapp die Ressource, nach der jeder sucht. Tagsüber bewegen sich die Charaktere im Haus, seitlich wie ein Ameisenbau im Schnitt einsehbar. Das hat schon etwas von den "Sims", wenn die Körperhaltung den Bedürfnissen oder Leiden entspricht - da schleppt sich Bruno, der Koch, zum Herd, damit die anderen Bewohner davon profitieren können, dass er Essen besser zubereiten kann.

Doch um kulinarische Kultur geht es beileibe nicht, um den luxuriösen Alltag der westlichen Welt, oder besser gesagt: wie sich die Werbewirtschaft und die Unternehmen ihren Markt schönmalen; auch nicht um Zivilisationsprobleme, die keine sind. Für Zickenkriege bleibt keine Zeit, nicht für beleidigte Figürchen, die wieder besänftigt werden müssen, oder ähnlichen Schnickschnack, der dem Spieler das Zeitempfinden entzieht und ihn in einen tumben Anti-Wahrnehmungstunnel schickt. Gemein mit den "Sims" hat "This War of Mine" dagegen den Tamagotchi-Trigger. Die Charaktere überleben ohne die helfende Maushand des Spielers nicht. Die Voraussetzungen sind jedoch völlig andere. Abseits der bunten Disney-Welt herrscht die Realität, da herrscht der Krieg.

"This War of Mine" bietet mehr; zu lesen und zu betrachten ist es auch in den täglichen Nachrichten. Viele Spiele versuchen es über den Subtext, ziehen verschiedene Ebenen ein, um denjenigen etwas zu vermitteln, die nicht nur auf die Auflösung, Grafikeffekte und Waffentypen gucken. Valve Software sind durch Half-Life und Portal noch immer die Könige dieser Disziplin, aber auch die "Bioshock"-Reihe vollführte dies in eindrucksvoller Qualität. "Spec Ops: The Line" etwa war da mit seinem Antikriegsansatz viel offener. "This War of Mine" ist anders, weil es gar nicht erst versucht, eine mögliche Lesart zu verstecken, die Spieler abschrecken könnte. Nähe und Aktualität sind seine zentralen Qualitäten.

Mahnung in Grau und Schwarz

"Es kann immer und überall Krieg geben, auch vor deiner Haustür", sagte Entwickler Karol Zajaczkowski im Interview mit dem Spielemagazin gamona.de, und bezieht sich dabei explizit auf den aktuellen militärischen Konflikt in der Ukraine. Sogar eine Hilfsorganisation, die sich unter Krieg leidenden Kindern annimmt, wird über das Spiel der 11 Bit Studios unterstützt.

Kälte, Hunger und andere Menschen: Die ständigen Gefahren für die Überlebenden.

Kälte, Hunger und andere Menschen: Die ständigen Gefahren für die Überlebenden.

(Foto: Deep Silver)

Die Umgebung darin ist eine Mahnung mit Bleistift oder Kohle. Alles schreit nach Untergang. Fern und nah sind schwere Geschütze zu hören. Je mehr Tage die Gruppe hinter sich bringt, desto bedrückender wird die Situation. Auch tödliche Verluste sind nicht ausgeschlossen. Das belastet die anderen. Manche schleppen Krankheiten oder Verwundungen mit sich herum, bis sie mit seltener Medizin oder Verbandszeug versorgt werden und halbwegs genug Schlaf bekommen, vorzugsweise in einem selbst gebauten Bett.

Die Schicksalsgefährten hoffen darauf, dass das ausgewiesene Verhandlungsgeschick ihrer Mitstreiterin ein wenig mehr als das Lebensnotwendige für die Gruppe bringt - Zigaretten etwa, oder Bohnenkaffee. Der Krieg reduziert den Luxusbegriff, bis er eine unheimliche Präsenz erfährt. Diese Güter existieren, sind aber selten. Immer wieder ist abzuwägen, ob die Handlung überhaupt möglich ist, ohne sich selbst einem tödlichen Risiko auszusetzen.

Bei Sonderaufträgen, die anderen Gruppen helfen, fehlt als Auswirkung die Arbeitskraft im eigenen Haus. Der Charakter kommt erschöpft zurück. Dann muss er sich ausruhen und kann auch den zweiten Tag in Folge nicht das Haus sichern, Werkzeuge herstellen, den Alltag organisieren. Dafür steigt die Zufriedenheit der anderen, menschlich gehandelt zu haben. Das Mitgefühl vor dem Bildschirm entscheidet.

Zeit der Opfer

Oben im Menü tickt die Uhr im Zehnminutentakt, Zeit ist wertvoll. Bald stellt sich eine strukturierte Denkweise ein: Welche Waren müssen nachts erbeutet werden, damit sie am Tag helfen können, wie und wann kann man sie verarbeiten? "Ein gutes Buch könnte uns dabei helfen, die Schrecken des Krieges zu vergessen", sagen die Charaktere. Gelegenheit dafür ist selten. Einfach nur zu überleben ist eine lebensfüllende Aufgabe. Und alleine fast unmöglich. Die Aufgaben müssen aufgeteilt werden.

Dann bahnt sich die Verzweiflung einen Weg in den Entscheidungsprozess. Diebstahl bei anderen Überlebenden oder sogar Kampf sind eine Option, aber die Gruppe fordert moralische Standards. Im Krieg ist eben nicht alles erlaubt, so die Botschaft. Zivilisten sind Opfer ihrer Täterschaft - und der Machtgier, der Einflussgier anderer. Niemand überlebt aus Lust am Töten, sondern wegen seines Willens, zu überleben. "This War of Mine" ist wichtig. Es berührt mit anderen Mitteln als der Film, anders als ein Buch, weil man nicht nur liest oder beobachtet, sondern selbst gefordert wird.

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Der Artikel erschien ursprünglich beim Computerspiele-Magazin gamona.de. Der Text wurde für die erneute Veröffentlichung redaktionell überarbeitet.

Quelle: ntv.de

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