Betrug mit CO₂-Zertifikaten? Warum so viele Waldprojekte Schwindel sind
17.11.2023, 16:01 Uhr Artikel anhören
Die Projekte scheitern auch daran, dass teils zu wenige Bäume gefällt werden.
(Foto: picture alliance / Maximilian Koch)
Rettet man einen Wald vor der Kettensäge, kann man CO₂-Zertifikate beantragen - und diese für viel Geld an Unternehmen verkaufen, die ihre Emissionen ausgleichen, sich grün rechnen wollen und plötzlich "klimaneutral" sind. Experten schätzen, dass dieser Markt mit Kompensationsprojekten bereits 2040 weltweit eine Billion US-Dollar umsetzen könnte. Doch bei genauerer Kontrolle entpuppen sich viele Waldprojekte als Schwindel, viele Zertifikate als wertlos. "Es gibt keine staatliche Regulierung", benennt Lambert Schneider vom Öko-Institut im "Klima-Labor" das größte Problem einer Branche, in der lediglich freiwillige Standards gelten. Außerdem fehlen objektive und klare Kriterien, was genau ein Projekt leisten muss, um CO₂-Zertifikate zu erhalten. Das Ergebnis sind Klimaschutzprojekte, bei denen Bilanzoptimierung zum Alltag gehört - und die neuerdings das Interesse von Belarus und Russland geweckt haben.
ntv.de: Gibt es auf dem Markt für CO₂-Zertifikate überhaupt Projekte, bei denen tatsächlich Emissionen reduziert werden?
Lambert Schneider: Ja, aber diese Projekte sind sowohl für Laien als auch für institutionelle Käufer schwierig zu identifizieren. Man muss genau suchen, denn bei Carbon-Credit-Projekten können sehr viele Dinge schiefgehen. Wenn ich etwa einen Wald pflanze, der später abbrennt, ist das CO₂ trotzdem in der Atmosphäre. Deswegen gilt: Das Projekt muss zusätzlich sein; die Minderungen müssen robust quantifiziert werden und dürfen nicht, wie es oft passiert, massiv überschätzt werden. Es müssen sehr viele Details beachtet werden, das macht es so komplex.
Was bedeutet "zusätzlich"?
Nehmen wir eine Windkraftanlage: Wenn die ohnehin gebaut würde, ich aber dennoch CO₂-Zertifikate erhalte und weitere Emissionen verursachen kann, habe ich mehr CO₂ ausgestoßen, aber tatsächlich gar nichts eingespart. Es muss also belegt werden, dass eine Klimaschutzmaßnahme erst durch die Zertifikate ermöglicht wird und sonst nicht umgesetzt werden würde. Wie man sich vorstellen kann, ist diese Frage sehr hypothetisch. Woher weiß ich, dass ein Wald ohne Kompensationsprojekt abgeholzt würde? Das kann niemand mit Sicherheit beantworten.
Eines der bekanntesten Kompensationsprojekte ist das Kariba-Projekt in Simbabwe. Der "New Yorker" allerdings berichtet, dass dieses Vorzeigeprojekt viele wertlose CO₂-Kredite verkauft hat - erstaunlicherweise, weil in einem anderen Wald zu wenige Bäume gefällt wurden.
CO₂-Zertifikate, auch Carbon Credits oder Emissionsgutschriften genannt, sind messbare und verifizierbare Emissionsreduktionen aus überprüften Klimaschutzprojekten. Das können Projekte sein, bei denen Bäume gepflanzt werden oder welche, bei denen das Roden eines Waldes verhindert wird. Auch andere Projekte, die das Ökosystem schützen und Emissionen vermeiden, gehören dazu. Ist verifiziert, dass ein Projekt diese und andere Kriterien erfüllt, erhält es für jede eingesparte Tonne Emissionen CO₂-Zertifikate, die gehandelt werden können. Unter anderem VW, Gucci, Disney, Netflix, Nestlé, Porsche, SAP, Bayer, Shell, Air France, McKinsey, aber auch RTL und ntv haben bereits Zertifikate bei unterschiedlichen Anbietern und Projekten auf der ganzen Welt eingekauft, um ihre Emissionen auszugleichen. Bloomberg schätzt, dass dieser Markt 2040 etwa eine Billion US-Dollar groß sein könnte. Doch mehrere Recherchen unterschiedlicher Medien zeigen: Viele Zertifikate sind wertlos. Ihr Nutzen wurde über Jahre systematisch überschätzt.
Bei Projekten zur Vermeidung von Abholzung ist entscheidend: Wann würde der Wald in welchem Umfang abgeholzt werden? Um diese Frage beantworten zu können, zieht man Vergleichsgebiete heran - eine Art Kontrollgruppe wie in der Medizin. Dann wird geprüft, wie viel mehr in diesem Vergleichsgebiet als in meinem Gebiet abgeholzt wird. Das funktioniert aber nur bei Vergleichsgebieten, die tatsächlich repräsentativ für das Projekt sind. Im Fall von Kariba stellte sich heraus, dass der Unterschied zwischen Vergleichsgebiet und Projektgebiet nicht so groß war wie angenommen. Deswegen wurden zu viele Zertifikate ausgegeben.
Wer legt denn die Vergleichsgebiete fest und kontrolliert die Angaben? Solche Märkte werden doch reguliert.
Es gibt freiwillige Standards wie den Verified Carbon Standard von Verra. Die legen die genauen Regeln fest. Wenn ich einen Wald vor dem Abholzen schützen möchte, muss ich das Projekt dort registrieren. Anschließend muss man dokumentieren und nachweisen, dass die Emissionen tatsächlich eingespart wurden. Das kann zum Beispiel erfolgen, indem ich alternative Einkommensquellen für die lokale Bevölkerung schaffe, sodass sie nicht mehr auf das Abholzen angewiesen ist. Die Berechnungen der Emissionsminderungen werden von einem Verifizierer validiert, in Deutschland macht das unter anderem der TÜV. Am Ende bekomme ich für die vermiedenen Emissionen CO₂-Zertifikate ausgestellt.
Dieser Verifizierer kommt vor Ort vorbei und schaut sich das Projekt mit eigenen Augen an oder passiert das aus der Ferne?
Das ist unterschiedlich geregelt, je nach Regulierungsstandard. Die meisten verlangen, dass man zumindest stellenweise vor Ort sein muss, aber das gilt nicht für alle Projekte. Manche verlassen sich auf Videodaten oder Satellitenbilder. Eine Validierung macht man üblicherweise, wenn das Projekt beginnt. Einige Jahre später folgt die Kontrolle.
Halten Sie Verra für einen zuverlässigen Standard?
Definitiv nicht. Wir haben bei Wald-, aber auch bei anderen Projekten massive Qualitätsprobleme. Mit einem Großteil der Zertifikate werden keine Emissionen gemindert, auch wenn es einzelne gute Projekte gibt. Ein großer Unterschied zum Biolandbau ist, dass ich dort relativ objektive und klare Kriterien habe, die man gut überprüfen kann: Pestizide oder bestimmte Düngemittel dürfen nicht genutzt werden. Bei den Carbon Credits befinde ich mich in einer Was-wäre-wenn-Welt: Ich muss abschätzen, was ohne das Projekt passiert wäre. Das wird zudem durch die Informationsasymmetrie erschwert: Der Projektentwickler hat mehr Informationen als die Validierer oder Standards wie Verra und weiß genau, welche Datenquelle zu mehr Zertifikaten führt. Er kann etwa als historische Referenzperiode nicht die letzten fünf Jahre angegeben werden, sondern die Jahre davor, in denen sehr viel mehr abgeholzt wurde.
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In der Wirtschaft nennt man das Bilanzoptimierung.
Aber in der Wirtschaft lassen die Bilanzierungsregeln weniger Spielraum für Betrug. Wir analysieren den Kohlenstoffmarkt am Öko-Institut sehr genau und stellen immer wieder fest, dass Projektentwickler sehr viel kreativen Spielraum bei der Berechnung von Minderungen haben. Und Zertifizierer wie der TÜV werden von den Projektentwicklern bezahlt. Das senkt den Anreiz, zu meckern, denn sonst verliert man seine Kunden.
Und es gibt niemanden, der Verra beaufsichtigt?
Nein. Dieser Markt ist freiwillig. Verra ist eine Nichtregierungsorganisation, die aus der Industrie heraus gegründet wurde. Es gibt keine staatliche Regulierung, abgesehen von Gesetzgebungen zu wettbewerbsverzerrender Werbung in einigen Ländern. In Europa wird derzeit etwa die Green Claims Directive verhandelt: Diese Richtlinie sieht vor, dass Unternehmen nicht mehr von klimaneutralen Projekten sprechen dürfen, wenn die Emissionen mit Zertifikaten ausgeglichen werden.
Im Kern ist dieser Ansatz ja nicht falsch. Wir müssen Wege finden, um CO₂-Emissionen zu vermeiden. Glauben Sie, dass sich der Markt in eine seriöse Richtung entwickeln kann oder wird ein Projekt nach dem anderen auffliegen und die Unternehmen den Kauf von Carbon Credits einstellen?
Einige Unternehmen sind schon ausgestiegen, deswegen steht dieser Markt tatsächlich an einem Scheideweg. In der Wissenschaft sehen wir diese Probleme schon seit Jahren. Wirklich alte Studien belegen, wie viel schiefläuft. Aber das Thema kommt jetzt erst verstärkt in die Medien. Dadurch herrscht eine andere Aufmerksamkeit und ein anderer Druck. Es gibt aber viele Initiativen, um die Qualität des Marktes zu verbessern. Es wird sich zeigen, ob Kohlenstoffprogramme wie Verra ihre Regeln ernsthaft reformieren werden oder nicht.
Üben die Unternehmen Druck auf Programme wie Verra aus? Die verlieren ja Geld und Vertrauen, wenn sie wertlose CO₂-Zertifikate kaufen.
Gerade üben verschiedene Akteure Druck aus, darunter die Unternehmen, denn deren Ruf leidet und sie können unter Umständen verklagt werden. In den vergangenen Jahren sind auch eine ganze Reihe von Ratingagentur-Startups entstanden, die einzelne Projekte bewerten, wie es Kreditratingagenturen auf dem Finanzmarkt machen. Das schafft noch mal eine andere Transparenz.
Vor der Finanzkrise 2008 haben die Ratingagenturen aber auch versagt. Und jetzt gibt es eine ganz neue Initiative aus Afrika, wo sich viele dieser Wälder befinden. Dort möchte man verständlicherweise ein Stück des billionenschweren Kuchens abhaben und eine Art Wall Street für den internationalen Kompensationsmarkt aufbauen. Als Partner hat man sich allerdings Belarus ins Boot geholt, das Zertifikate für russische Wälder verkaufen will …
Es gibt in Afrika große Erwartungen an den Kohlenstoffmarkt, aber es ist fraglich, ob sie erfüllt werden können. Ich kenne die Details dieses Deals nicht und kann die Pläne nicht beurteilen, aber Russland hat bereits in der Vergangenheit jede Menge fragwürdige CO₂-Zertifikate aus allen möglichen Aktivitäten herausgegeben. Nur Waldzertifikate wurden nie registriert, auch nicht bei Verra. Ich weiß wirklich nicht, was hinter diesen Zertifikaten steckt oder ob das nur heiße Luft ist. Es klingt auf jeden Fall sehr fragwürdig.
Benötigen wir diesen freiwilligen Markt für CO₂-Kompensation denn überhaupt oder wäre es besser, einen anderen Weg zu suchen?
In jedem Fall brauchen wir Finanzierung von Klimaschutz - und zwar von staatlicher Seite. Genauso benötigen wir staatliche Regulierung. Das wird uns aus der Klimakrise bringen. Freiwilliges Handeln kann das ergänzen, aber nicht der wesentliche Baustein sein.
Mit Lambert Schneider sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet.
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Quelle: ntv.de