Gastronomie fehlen Arbeitskräfte Wie der Personalmangel deutsche Gaststuben leert


Die Ratsherrenstube wartet auf Gäste - vorerst vergeblich.
Mario Schulz betreibt in Berlin das Restaurant "Zur Gerichtslaube". Der Wirt muss sechs Stellen besetzen, doch er findet keine Mitarbeiter. Das Arbeitsamt sei keine Hilfe, Stellenanzeigen laufen ins Leere. Schulz wünscht sich mehr Druck auf Arbeitslose.
Es ist Mittagszeit, weiße Tücher und rote Läufer über allen Tischen, darauf goldene Kerzenständer, schweres Besteck neben gefalteten Servietten. Die "Ratsherrenstube" im ersten Stock des Altberliners Restaurants "Zur Gerichtslaube" hält Platz für rund 60 Gäste bereit. Diese Gäste könnten auf Stühlen aus dunklem Holz sitzen. Sie könnten nach oben blicken und das helle Gewölbe bewundern, das von backsteinernen Bögen durchzogen ist. Doch es sind keine Gäste da.
Wenn es nach Mario Schulz ginge, wäre die Ratsherrenstube voll: "Von einem Tag auf den anderen könnten wir loslegen", sagt der Wirt. Er sitzt ein Stockwerk tiefer, im Erdgeschoss der Gerichtslaube. Hier unten liegt der Geruch von Sauerkraut in der Luft, Besteck klappert, zwei Kellnerinnen tragen Bierkrüge und Eisbeine an die Tische. Oben jedoch herrscht Leere.
Pandemie noch nicht überwunden
Denn Mario Schulz hat sechs Stellen zu besetzen. Drei Köche, zwei Servicekräfte und eine Küchenhilfe sucht er. Hätte Schulz die, könnte er auch den ersten Stock bewirtschaften, in der Ratsherrenstube flössen wieder Bier und die Einnahmen: Dreitausend Euro Umsatz gehen ihm jeden Tag flöten, schätzt der Wirt.
Mit seinen Nöten dürfte Schulz nicht allein sein. In der Pandemie erlebte die Branche einen Exodus, viele Beschäftigte suchten sich neue Jobs, während ihre Arbeitsstätten monatelang geschlossen waren. Die Zahl der offenen Stellen halbierte sich nahezu. Als die Geschäfte wieder anliefen, suchten Barbesitzerinnen und Gastwirte nach Personal, das oft genug nicht mehr da war.
Die Arbeitsagentur verzeichnet 2022 mit gut 20.000 offenen Stellen in der Gastronomie keinen Rekord, angesichts einer dezimierten Branche aber doch einen beeindruckenden Wert. Die Umsätze liegen laut Statistischem Bundesamt noch immer unter Vorkrisen-Niveau. Das gilt auch für die Zahl der in der Gastronomie beschäftigten Menschen.
"Personalmarkt am Boden"
Ein gewisses Maß an Fluktuation ist üblich in der Gastronomie, aber nach Corona sei der Nachschub ausgeblieben, erzählt Schulz: "Der Personalmarkt ist am Boden." 600 Euro zahlt der Wirt jeden Monat für Stellenanzeigen im Internet, bislang ohne Erfolg. Vor der Pandemie habe er nie Stellenanzeigen geschaltet. Schulz schüttelt ungläubig den Kopf, fast als könne er nicht fassen, dass es so weit gekommen ist mit ihm.
Schulz' Restaurant liegt in einer Seitengasse des historischen Berliner Nikolaiviertels, zwischen dem Roten Rathaus und der Spree. Er bezahle gut, über Tarif - selbst der Tellerwäscher bekomme mehr als den Mindestlohn, sagt Schulz. Auch bei ihm gingen in der Pandemie einige Angestellte, Ersatz ließ sich keiner finden.
Die Arbeitsagentur sei keine Hilfe, klagt Schulz. Die Behörde frage lediglich alle paar Monate nach, ob die gemeldeten offenen Stellen noch aktuell seien, abgesehen davon gebe es keinen Kontakt. Mit einer Ausnahme: Im September 2022 habe sich die Arbeitsagentur bei ihm außer der Reihe gemeldet, erzählt Schulz. Inhalt der Nachricht damals: Eine offene Stelle sei in der Jobbörse geschlossen worden, "aufgrund ausbleibenden Erfolgs". Schulz lacht bitter.
"Dem wurden Steine in den Weg gelegt"
Die Pressesprecherin der Behörde kann sich kaum vorstellen, dass Schulz so allein ist mit seinem Problem: Man berate Arbeitslose wie Arbeitgebende, suche individuell nach Lösungen, schlage Arbeitslosen offene Stellen vor, besuche Arbeitsplätze, überlege mit den Verantwortlichen gemeinsam, ob nicht beispielsweise Angestellte weitergebildet werden können.
Schulz aber wünscht sich mehr Druck auf Arbeitslose. Für ihn ist der finanzielle Abstand nicht groß genug, der zwischen seinen Angestellten und den Menschen liegt, die Bürgergeld bekommen. Schulz ist überzeugt: Wenn Arbeitslose weniger Geld bekämen, würden sich mehr Menschen dazu aufraffen, in der Gerichtslaube zu kochen, zu kellnern oder zu putzen.
Gute Erfahrungen hat der Wirt mit Zuwanderern gemacht. "Die arbeiten super", freut sich Schulz. Spielverderber aber auch hier wieder: deutsche Behörden. Bei ihm hatte sich ein junger Syrer beworben, ein Koch, erzählt Schulz: "Dem wurden Steine in den Weg gelegt": Dreieinhalb Monate habe der junge Mann auf seine Arbeitserlaubnis warten müssen.
Mit ihm wartete Schulz - erfolgreich immerhin: Seit Oktober kocht der Mann in der Gerichtslaube. In der Gerichtslaube, wo im ersten Stock eine komplett eingerichtete Küche nur darauf wartet, dass es in ihr mal wieder richtig brutzelt, dampft und zischt. In der Gerichtslaube, wo im ersten Stock Friedrich der Große nebst Gemahlin von Gemälden an der Wand aus in die Leere starren und schon eine ganze Weile ziemlich einsam sind.
"Uns könnte es richtig gut gehen"
Warum zahlt Schulz nicht einfach mehr Gehalt? Schließlich würde er mit zusätzlichem Personal mehr Umsatz machen. Die Rechnung geht für Schulz nicht auf: "Die Leute kommen mit Forderungen, da müsste ich das Essen zehn Euro teurer machen." Aber er wolle, dass seine Gäste wiederkommen. Er könne nicht einfach die Preise erhöhen, "nur, weil da einer verdienen will wie ein Richter". Bewerber erwarteten teilweise ein Nettogehalt von 3.000 Euro pro Monat plus Trinkgeld, sagt Schulz. Seine Angestellten verdienten in Vollzeit aber eher um die 1.800 Euro netto in Vollzeit; Durchschnitt für einen Job in der Küche.
Zwei Millionen Euro Umsatz im Jahr macht die Gerichtslaube laut ihres Wirtes. Zum Gewinn will Schulz nichts sagen, nur so viel: Er könne keine Rücklagen bilden, aber sei weit weg davon, schließen zu müssen. Das habe er auch dem festen Personalstamm zu verdanken; teilweise seien die Leute schon mehr als zehn Jahre dabei, ein eingespieltes Team. Er tue, was er könne, damit diese Angestellten bleiben. Urlaub, Dienstplan, S-Bahn-Karten: "Die richtig guten Leute werden bemuttert", sagt Schulz.
Im Ausgleich retten sie Schulz das Geschäft. "Uns geht es nicht schlecht", gibt der Wirt zu, "aber mit ausreichend Personal könnte es uns sehr gut gehen." An diesem Tag geht es immerhin ein bisschen besser: Ein 1952er-Jahrgang hat Klassentreffen, und weil die Damen und Herren schon seit zwanzig Jahren in die Gerichtslaube kommen, dürfen sie nachher ausnahmsweise in der Ratsherrenstube essen.
Eine junge Frau kommt in die Gaststätte. Schulz fragt: "Wollen wir meinen Bericht mit was Positivem beenden?" Er beantwortet die Frage selbst, indem er die Frau vorstellt. Sie fange neu an, als Kellnerin, habe heute ihren ersten Arbeitstag. Bedeutet das, die Stellenanzeigen haben sich doch gelohnt? Schulz lacht, schüttelt den Kopf: "Persönliche Kontakte", sagt er.
Quelle: ntv.de