"Frühe Vögel" & der Weg ins All Theo, wir fahr'n zum Mond
23.09.2012, 08:55 Uhr
Dieser Doppeldecker erinnert an den ersten amtlichen Postflug in Deutschland vor etwa 100 Jahren zwischen Mannheim und Heidelberg.
(Foto: picture alliance / dpa)
Theodor Leudoldt macht in Versicherungen, dabei will er doch den Mond erobern. Die Luftfahrt steckt im Kaiserreich noch in den Kinderschuhen. Aber Theodor ist ja jung und voller Ideen - was man auch von Matthias Senkel sagen kann, der mit "Frühe Vögel", ein ungewöhnliches, kurzweiliges und humorvolles Romandebüt vorlegt.
In Zeiten, in denen Flüge quer durch Europa nur noch wenige Euro kosten, kann man sich kaum noch vorstellen, dass vor gerade einmal 100 Jahren die Luftfahrt, sowohl die militärische, aber erst recht die zivile, noch in den Kinderschuhen steckte. Es waren Menschen mit Visionen nötig, um die junge Technik voranzubringen. Theodor Wilhelm Leudoldt war einer dieser Menschen. Zumindest, wenn man Matthias Senkel glaubt, der in seinem Romandebüt "Frühe Vögel" (Aufbau-Verlag) den Spuren von Leudoldt und seinen Nachkommen folgt.
Theodor, gleichermaßen Schachmeister und Zahlengenie, wächst in Gotha zu Zeiten des Kaiserreichs von 1871 auf. Als Sohn eines Versicherungsangestellten und Enkel eines Eisenbahn-Fanatikers ist seine Zukunft eigentlich vorgezeichnet. Doch lange hält es ihn nicht in der Provinz. Theodor will hoch hinaus: Die sich gerade entwickelnde Luftfahrt hat es ihm angetan und in Leipzig trifft er auf Gleichgesinnte. Die teilen nicht nur seine Begeisterung für Flugzeuge, sondern nutzen ihn auch nach Strich und Faden aus. Doch so schnell gibt Theodor nicht auf. Das Fliegen hat schließlich Potenzial.
Viel Phantasie und trockene Pointen
Der 1977 in Thüringen geborene, mittlerweile aber in Leipzig lebende Matthias Senkel, der 2009 den Open-Mike-Literaturpreis gewann, verfolgt in seinem Roman die Geschicke und Missgeschicke von Theodor, seiner Tochter Ursula und seiner Enkelin Michelle. Das sind etwa 100 Jahre Luftfahrtgeschichte - wie sie hätten sein können. Denn Senkel lässt der Phantasie freien Lauf, was historische Ereignisse und technische Entwicklung angeht. Und das macht er richtig gut. "Frühe Vögel" ist so komisch wie unterhaltsam, strotzt vor Ideen und Kniffen, lebt aber gleichfalls von den zahlreichen Anspielungen auf historische Personen und Begebenheiten. Das kleidet Senkel in klare Sätze, die immer wieder trocken ihre Pointen heraushauen.

"Frühe Vögel" von Matthias Senkel ist im Aufbau-Verlag erschienen. Das Buch hat 298 Seiten im Hardcover mit Schutzumschlag und kostet 19,99 Euro (D).
Doch vor allem nutzt Senkel sein Romandebüt als Spielwiese für allerlei formale Gestaltungsmöglichkeiten. Zwei Kapitel seines Buches sind etwa in Dutzende kurze Absätze eingeteilt, die man entweder in der abgedruckten Reihenfolge lesen kann, oder aber in chronologischer Abfolge. Letzteres erfordert vom Leser zwar einiges Blättern, macht die Lektüre aber gleichzeitig ungemein kurzweilig. Ein weiteres Kapitel erzählt die Legende von Gökhan, was so viel wie Himmelsherrscher bedeutet, einem türkischen Kanonengießer des 10. Jahrhunderts, der über den Bosporus fliegen will, um seine Angebetete zu erobern. Weitere Kapitel sind schließlich als Comic (gezeichnet von Maryna Zhdanko) und als Interview gestaltet.
Gesammelte Todesarten
Das Sahnehäubchen ist jedoch das hundertseitige letzte Kapitel, das bezeichnenderweise Exit Personnage heißt. Denn hier schildert Senkel in mehr oder weniger kurzen Texten die Todesumstände all seiner Figuren. Und das sind in einer 100 Jahre umspannenden Geschichte nicht wenige. Entsprechend reichen die Todesarten von kleinen, traurigen Geschichten bis hin zu schwarzhumorig-makaberen Lebensenden. Das Kapitel kann dabei durchaus auch als Ergänzung und Weiterführung zur eigentlichen Handlung gelesen werden - was allerdings erneutes Hin- und Herblättern zur Folge hat.
Und damit wäre auch schon das Problem des Buches genannt. Zeitweise stellt sich das Gefühl ein, dass die Präsentation in experimentellen Formen die Handlung zu sehr in den Hintergrund rücken lässt. So verliert die Familiengeschichte der Leudoldts hier und da den roten Faden, schweift zu sehr ab oder lässt Handlungsstränge unvollendet. Nichtsdestotrotz bleibt "Frühe Vögel" ein überaus gelungenes Romandebüt, das in Sprache, Humor und Anspielungsreichtum sehr modern und frisch daher kommt, ohne aber den Kontakt zur Erde zu verlieren. Man darf gespannt sein, was Matthias Senkel als nächstes ausheckt.
Quelle: ntv.de