So handlich war noch keine Harley-Davidson Nightster - ungewohnt sportlich
21.04.2022, 16:44 Uhr
Sportlicher als die Nightster ließ sich noch keine Harley ums Eck bringen.
(Foto: Harley-Davidson)
Mit der völlig neu aufgelegten Sportster-Baureihe will Harley-Davidson auf dem Weltmarkt wieder punkten. Vor allem die neue Nightster soll als zweites Mitglied sportlich orientierte Fahrer gewinnen. Dafür verabschieden sich die US-Amerikaner sogar von ein paar klassischen Eigenschaften.
Wer jemals die Küstenstraße an der spanischen Costa Brava nördlich von Tossa de Mar befahren hat, der weiß, was ein Kurventanz ist. Hier Harley fahren? Könnte stressig werden. Doch exakt auf dieser Küsten-Achterbahn soll die neue Nightster zeigen, was sie kann: Mit 221 Kilogramm Leergewicht ist sie um mehr als 30 Kilogramm leichter als die verblichenen 1200er-Sportster-Modelle. Und mit 90 PS Motorleistung ist ihr Antrieb dann auch noch um über 20 PS stärker. Nach der Fahrt hat die Nightster im Bereich der Fußrasten zwar etwas Material verloren, doch im Hirn ihres Fahrers hat sich die Erkenntnis festgesetzt: Da geht was! Denn ähnlich handlich war noch kein anderes Motorrad aus Milwaukee.
An der Nightster ist abgesehen von Zahnrad-Endantrieb nichts mehr so, wie es jahrzehntelang der hauseigenen Norm entsprach: Der vermeintliche Blechtank dient jetzt als Abdeckung der Airbox, der 11,7 Liter fassende Kunststofftank befindet sich dagegen unter dem Fahrersitz. Die zwei Zylinder des Motors stehen nun im Winkel von 60 statt 45 Grad und sie sind von Wasser umspült statt von Luft gekühlt. Aus vier untenliegenden Nockenwellen sind vier obenliegende geworden, statt des einzigen Fahrmodus im Tucker-Tucker-Stil mit bescheidenen Drehzahlen und eher zähem Drehvermögen stehen jetzt drei Fahrmodi zur Wahl und der flink durcheilte Drehzahlbereich erstreckt sich bis an die 8000 Touren. Das Design-Kunststück bestand jetzt darin, die für Harley-Verhältnisse revolutionäre Technik so zu präsentieren, dass sich beim Betrachter auch noch ein Sportster-Gefühl einstellt.
Haptisch eher unattraktiv

Die zwei Zylinder des Motors stehen bei der Harley-Davidson Nightster nun im Winkel von 60 statt 45 Grad.
(Foto: Harley)
Das ist weitgehend gelungen, denn die Silhouette der Nightster nimmt viele gewohnte Elemente auf: den kurzen Heckkotflügel mit dem stehenden Kennzeichen, die beiden bestens sichtbaren Federbeine, den Einzelsitz (eine Mitfahrgelegenheit gibt es als Zubehör), die runden Blinker oder den Rundscheinwerfer mit seiner dunkel eingefärbten Verkleidung. Dass angesichts der Modellbezeichnung die Farbe Schwarz dominiert, nimmt nicht Wunder. Nicht so recht zum Kaufpreis von mindestens 14.995 Euro will die verbreitete Verwendung von Kunststoffelementen passen. Viele Flächen erscheinen steril und haptisch eher unattraktiv.
Der aus dem 2021 vorgestellten 1250er-V2-Motor ("Revolution Max 1250T") entwickelte Abkömmling weist zwei Zündkerzen weniger, dafür eine variable Steuerung der vier Einlassventile sowie weniger Hub und Bohrung auf. Die Maximalleistung des 975ers ("Revolution Max 975T") stellt sich bei 7500 Kurbelwellenumdrehungen ein, das maximale Drehmoment liegt bei 95 Newtonmetern. Das sind gute Werte, wobei die untere Hälfte des Drehzahlbandes fürs Bummeln ideal ist und die obere beim Sporteln zum Einsatz kommt, beispielsweise auf der Costa-Brava-Achterbahn. Ein "Wumms" im bekannten Harley-Sinn ist dem 975er trotz aller Hightech-Finessen dann aber doch nicht zu Eigen.
Kurven sind kein Hindernis
Die sechs Gänge schalteten sich am Testbike eher hart, einen Quickshifter gibt es nicht und die Gasannahme ist nicht immer geschmeidig. Die Schräglagenfreiheit harmoniert mit der Sitzposition und wird wohl für 95 Prozent aller Fahrer ausreichen. Lenkergriffe und Fußrasten sind gut erreichbar, so dass sich schnell ein allgemeines Wohlbefinden im Sattel einstellt. Kurven sind kein Hindernis, sondern Grund für breites Grinsen. Die einzelne Bremsscheibe im Vorderrad leistet seriöse Arbeit, die hintere arbeitet brav zu, das gut regelnde ABS beherrscht sicheres Vermeiden von Radblockaden nur in der Senkrechten, nicht aber in der Schräglage.
Die Instrumentierung der Nightster ist für heutige Verhältnisse eher sparsam. Statt eines TFT-Display, in der 15.000 Euro-Klasse inzwischen eher üblich, kommt ein runder Analogtacho mit LC-Anzeigefeld zum Einsatz, in dem alles sonst Nötige klar, aber in kleiner Schrift ablesbar ist. Die Fahrmodi "Rain", "Road" und "Sport" unterscheiden sich stark, die Elektronik beeinflusst Gasannahme, Traktionskontrolle und ABS-Regelung. "Rain" reduziert darüber hinaus die Motorleistung um 15 Prozent, sagt Harley. Damit lässt sich prima leben. Eine Smartphone-Integration ist nicht vorgesehen. Zum Motorradfahren passt das gut, in die gegenwärtige Zeit und die Preisklasse jedoch weniger.
Der Sound ist nicht mehr Harley
Man muss weiß Gott nicht die Statur eines Gorillas aufweisen, um sich auf der Nightster wohlzufühlen; der in nur gut 70 Zentimetern Höhe montierte Sitz sorgt auch bei kürzer gewachsenen Piloten für besten Bodenkontakt der Füße beim Anhalten, die Handgriffe sind weitenverstellbar und funktionieren leichtgängig, sämtliche Beleuchtungskörper weisen LEDs auf. Insofern sind alle wichtigen Voraussetzungen erfüllt, um mit der Nightster locker-flockig unterwegs sein zu können.
Bleibt nur ein noch die Kernfrage dieser Marke: Was ist mit dem Sound? Die - natürlich schwarz eingefärbte - Auspuffanlage klingt wirklich gut. Allerdings nicht nach Harley. Aber wie soll sie auch angesichts der technischen Gegebenheiten?
Während Harley-Davidson in Nordamerika 2021 wieder auf den Wachstumspfad zurückgefunden hat, verzeichnet die Motor-Company überall sonst anhaltend rückläufige Zahlen. Nicht zuletzt mithilfe der neuen Sportster-Baureihe soll sich das wieder ändern.
Quelle: ntv.de, Ulf Böhringer, sp-x