Praxistest

560 PS, 160.000 ?, 120 Motoren Mit dem Bentley unterwegs

von Axel F. Busse

Endlich: Die Schlüsselfrage ist beantwortet. Für Fahrer des neuen Continental Flying Spur besteht keine Gefahr mehr, an der Hotelrezeption oder am Schanktisch der Cocktailbar versehentlich den Autoschlüssel des Nachbarn zu greifen und zum Altea- oder Fabia-Lenker zu mutieren. Nicht, dass Seat- oder Skodafahren eine unehrenwerte Art der Fortbewegung wäre. Aber mit der Einführung des Viertürers tut der Türöffner, was er schon längst hätte tun sollen: Abgrenzung dokumentieren zwischen der 16.000-Euro-und der 160.000 Euro-Klasse. Schließlich hat man es mit einem Luxusmobil zu tun, das der aktuellen Staatskarosse der Queen nicht unähnlich ist.

Zum Fahren wird so ein Schlüssel ja ohnehin immer seltener gebraucht. Bei Bentleys schon lange nicht mehr. Und auch beim größeren Bruder des Continental GT kann man ihn getrost in der Hosentasche belassen und lässig den Startknopf an der Mittelkonsole drücken. Es empfiehlt sich, dabei den Drehzahlmesser im Auge zu behalten, denn wer das kurze Fauchen des Biturbo-Zwölfzylinders verpasst, kriegt möglicherweise vom seidenweichen Leerlauf-Spiel der 48 Ventile nichts mit.

Hundertzwanzig Stellmotoren

Auch die Tür fällt nicht ins Schloss, sie wird gezogen. Das übernehmen unsichtbare Helfer, die im Technik-Biotop des Continental Flying Spur offenbar so ideale Lebensbedingungen gefunden haben, dass sie sich unkontrolliert vermehrt zu haben scheinen: Sage und schreibe 120 elektrische Stellmotoren bewegen Türen, Doppelscheiben-Fenster und Heckscheibenrollo, Sitze, Lehnen und Kopfstützen (natürlich auch hinten), Spiegel und was sonst noch alles auf individuelle Insassenbedürfnisse angepasst werden kann. Ständig surrt es irgendwo - oder war das doch nur die Erinnerung, dass die 560 PS endlich losgelassen werden wollen?

In behaglicher Ruhe abgeschottet von der Außenwelt kann er sich den Genüssen luxuriösen Gleitens hingeben, wobei dieser Bentley für die Fondpassagiere einen besonderen Service bereithält: Bevor das Verbrennungsgeräusch aus den zwölf "Halben" vorn den letzten Schalldämpfer erreicht, dringt beim Gasgeben noch ein kerniges Brabbeln durch die dicken Lederpolster und Wurzelholzverkleidungen - eine kleine Entschädigung für die hinten Sitzenden, die diese Maschine nicht dirigieren dürfen. Contenance wahren heißt es angesichts der Tatsache, dass man im schnellsten Viertürer der Welt sitzt. 300 km/h und mehr dürfte man können, müsste man aber nicht wollen.

Zeitansage von Breitling

Obwohl an jedem Rad die Kraft eines 2-Liter-Golfs zerrt, reicht zum Dirigieren die Kraft, mit der Karajan einst den Taktstock wippen ließ. Eine feinfühlige und präzise Lenkung manövriert das 2,5 Tonnen-Schiff, dank Allradantrieb ist das Fahrverhalten absolut neutral und ein Anflug von Untersteuern wohl eher herbeigefühlt als tatsächlich vorhanden. Das Umsetzen von Gashebelbewegung in Vortrieb könnte eine Idee spontaner von statten gehen, ansonsten reagiert der Flying Spur erstaunlich unkompliziert und handlich Obwohl der Fahrer ab Kopfstütze noch fast drei Meter Auto hinter sich hat, ist von der bewegten Masse so gut wie nichts zu spüren.

Das ist auch ganz in Ordnung so, denn wie sollte man die Bequemlichkeit genießen, wenn die Fortbewegung einem schon die ganze Konzentration abverlangte? Immerhin sind in Reichweite des Fahrers nicht weniger als 99 Tasten, Hebel, Rädchen und Knöpfen - die beiden Lenkradpaddel für den Gangwechsel von Hand ebenso mitgezählt wie die, die von Beifahrer oder den hinten Sitzenden zu bedienen sind. Standesgemäß wird die Zeit von einer Breitling-Uhr mitgeteilt, der einzigen die weltweit in einem Auto eingebaut ist.

"Gewisse Mindestlänge"

Hinten wird nicht gesessen, man residiert eher, denn 30 Zentimeter zusätzlicher Radstand gegenüber dem GT sorgen für eine beruhigende Distanz zwischen Personal und Herrschaft. Doch nicht immer: Sehr viel häufiger als bei anderen Limousinen dieses Kalibers ist der Fahrer auch der Eigner, Chauffeure haben unter anderen Marken bessere Job-Chancen. "Für den amerikanischen Markt”, sagt Vorstandschef Franz-Josef Paefgen fast entschuldigend, "muss man eine gewisse Mindestlänge anbieten”. Und die liegt in diesem Falle haargenau bei 5.307 Millimetern, fast 50 Zentimeter jenseits des GT.

Obwohl auch mit fünf Plätzen lieferbar, hat der Flying Spur als Viersitzer einen besonderen Charme: Dann trennt die beiden Fondsessel nämlich eine gediegene Mittelkonsole, von der aus beispielsweise auch die Massageeinrichtung in den Lehnen aktiviert werden kann. Die Polster sind als leicht rundliche Mulden ausgeformt, dass die sportliche Attitüde nicht zu kurz komme. Wenn nämlich die Nachfrage nach dem GT nicht dramatisch abnimmt und diejenige nach dem Viertürer ebenso ansteigt, dann bekommt Bentley ein Problem, die gewünschten Stückzahlen in angemessener Zeit zur Verfügung zu stellen. Die "gläserne Fabrik” in Dresden soll Abhilfe schaffen, zumal das VW-Karosseriewerk in Mosel am Continental GT schon längst bewiesen hat, wie gut sächsisches und britisches Automobil-Know-How harmonieren. Wer sich in einem aktuellen Bentley den Zigarrenanzünder genau ansieht, entdeckt zwei Schriftzüge: Der eine lautet "Bentley", der andere "Made in Germany".

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen