"Ich würde gerne noch schweben" Astronautin blickt auf Corona-veränderte Erde
06.07.2020, 18:01 Uhr
Jessica Meir nach ihrer Ankunft in Kasachstan.
(Foto: imago images/ZUMA Wire)
Als Jessica Meir ins All startet, ahnt noch niemand etwas von der Corona-Pandemie. Von der ISS aus verfolgt sie die Nachrichten, wie sich das Virus immer weiter ausbreitet, und kehrt schließlich auf eine Erde zurück, die sich verändert hat.
Sieben Monate verbrachte Jessica Meir auf der ISS. Mitte April 2020 kehrte die US-amerikanische Nasa-Astronautin zurück zur Erde. Doch sie fand den Planeten nicht so vor, wie sie ihn verlassen hatte. Zum Zeitpunkt ihrer Landung hatte die Corona-Pandemie die ganze Welt lahmgelegt, in den USA erreichten die Zahlen der täglichen Neuinfektionen und Toten ihren Höhepunkt.
"Wir können im All Nachrichten lesen und bekommen mit, was passiert. Nicht ganz so regelmäßig wie auf der Erde, aber wir sprechen mit unseren Freunden und unserer Familie", erzählt Meir RTL/ntv. Natürlich haben die Astronauten außerdem ständig mit dem Team am Boden Kontakt. "Es war für uns wirklich schwierig, zu verstehen, was da unten gerade passiert", erinnert sich die 42-Jährige. "Denn eigentlich waren wir total beschäftigt mit unseren Experimenten und unserer Mission, und dann sowas."
Zusammen mit ihren beiden Kollegen Andrew Morgan und Oleg Skripotschka auf der ISS war Jessica Meir die einzige Person "weltweit", deren Alltag nicht von Covid-19 betroffen war. 400 Kilometer über der Erde beobachtete sie alles aus der Ferne. Und das aus einer ganz besonderen Perspektive.
Vom All sieht man keine Grenzen
"Du siehst diesen blauen, zerbrechlichen Ball unter dir. Und jeder Mensch, den du kennst, alles, was du erlebt hast in deinem Leben, ist da unten. Es ist so eindeutig von da oben, dass wir alle gemeinsam in dieser Situation sind", betont Meir. Vom All aus sehe man keine geopolitischen, von Menschen geschaffenen Grenzen. Man sehe, dass die Landmassen miteinander verbunden und die Meere eins sind. "Und dann wird einem bewusst, dass all unser Handeln am Ende nicht nur dich betrifft oder deine unmittelbare Umgebung, sondern den ganzen Planeten."
Während auf der ISS die Normalität weitgehend weiterlief, wurden auf der Erde drastische Maßnahmen ergriffen. Der Kontrollraum der Nasa musste in zwei verschiedene Räume aufgeteilt werden, damit der Mindestabstand der Kollegen eingehalten werden konnte. Eine Mammutaufgabe bei solch einer Mission.
"Wir sind als Astronauten gut darauf trainiert, in Isolation zu leben. Eine ganz wichtige Eigenschaft ist es aber auch, sich an unvorhersehbare Situationen anzupassen. Das alles war schon eine ganz neue Herausforderung - und eigentlich hat das Team am Boden den meisten Anteil daran, dass das alles so reibungslos funktioniert hat."
Meir hätte gern noch längere Zeit im All verbracht. Trotzdem musste sie am 17. April den Rückflug zur Erde antreten. Wie geplant landete ihre Kapsel in der Wüste Kasachstans. Dennoch war die Ankunft nervenaufreibend anders. In Empfang genommen wurden sie von maskentragenden Menschen, die Abstand hielten. Selbst ihre Liebsten durfte sie nicht in die Arme schließen. Nach sieben Monaten im All eine besonders schwierige Situation für die Astronautin.
Von einer Isolation in die nächste
Gefühlt ist Meir an diesem Tag am Ende der Welt. "Die größte Frage war, wie sie uns sicher zurück nach Hause in die USA bringen." Normalerweise kommt ein Nasa-Jet, um die Astronauten abzuholen. "Das ging ja mit den ganzen Einschränkungen nicht, deshalb musste alles umgeplant werden."
Zwar werden Astronauten nach einer Landung aus dem All immer in Quarantäne geschickt, bis sich ihr Immunsystem an die Umgebung auf der Erde und die Anziehungskraft wieder gewöhnt hat. Doch diesmal war die Isolation länger und härter denn je. Selbst nach zwei Monaten ist nicht alles so wie vorher.
"Mental ist das schon die größte Herausforderung, dass ich nicht die Dinge tun kann, die ich sonst tun würde. Aber so geht es ja gerade vielen Menschen hier auf der Erde. Aber natürlich - nach sieben Monaten im Weltraum ist es schon sehr komisch, plötzlich in dieser Situation zu sein, und nichts ist mehr so wie vor meiner Reise."
Andererseits habe man gesehen, dass Menschen sich sehr schnell an eine neue Situation gewöhnen können. "Damit meine ich besonders die drastischen Maßnahmen, die durch Covid-19 ergriffen wurden, um die Ausbreitung der Pandemie einzugrenzen und die Ansteckung zu verringern." Es seien extreme Maßnahmen umgesetzt worden. "Aber wir haben alle gesehen - wir können Veränderungen bewirken, wenn es den Druck gibt. Und diese Veränderungen haben dann einen großen Effekt auf die ganze Welt."
Plötzlich geht auch alles anders
Die Sehnsucht, die Erde zu verlassen und ins All zu fliegen, hatte Meir seit ihrer Kindheit. Ihr größter Lebenstraum hat sich mit ihrer ersten Mission zur ISS erfüllt. Sie war zusammen mit ihrer Kollegin Christina Koch sogar Teil des historischen ersten komplett weiblichen Weltraumspaziergangs.
"Ich wünschte, mehr Menschen hätten die Möglichkeit, diesen Blickwinkel zu bekommen aus dem All und die Welt einmal von oben zu sehen, so wie ich es konnte. Es würde uns helfen, unsere Meinung ein wenig zu verändern und unsere Ansichten über die Welt zu überdenken."
Die Erde sei das eine Zuhause für 7,5 Milliarden Menschen. Diese Lektion gelte übrigens nicht nur für die Corona-Pandemie, sondern auch beispielsweise für die "Black Lives Matter"-Bewegung. "Jede Stimme zählt gleich und jeder Mensch zählt gleich viel. Ich konnte es mit meinen eigenen Augen sehen - alle sind zusammen auf diesem einen Planeten. Und wenn man sich da oben umsieht, und du siehst sonst nur Leere und den schwarzen Weltraum, dann wird dir als Astronautin einfach noch viel mehr bewusst, dass die ganze Menschheit davon betroffen ist und wir gemeinsam handeln müssen."
Meir hat sich längst neuen Zielen zugewandt. Sie hofft, bei der von der Nasa geplanten "Artemis"-Mission im Jahr 2024 als erste Frau auf den Mond zu fliegen. Denn eigentlich wäre sie viel lieber noch im All, betont die Astronautin mehrmals: "Die Anziehungskraft wird überbewertet - ich würde jetzt gern noch schweben."
Quelle: ntv.de