Todesgrüße aus dem Netz Youtube kills the MTV Star
03.11.2013, 12:45 Uhr
Skandalauftritte wie den von Miley Cyrus bei den jüngsten MTV Awards könnte Youtube bald überkleistern.
(Foto: Charles Sykes/Invision/AP)
Lady Gaga, Eminem und Avicii - das sind nur einige der Namen, mit denen die Video-Plattform Youtube für ihre ersten "Music Awards" wirbt. "Wer braucht schon noch eine Preisverleihung?", könnte man denken. Doch die Sache hat mehr Brisanz als der Skandalauftritt von Miley Cyrus bei MTV.
Ja, wir vermissen sie noch immer ein wenig: den Ray Cokes, der uns zum Lachen brachte, die Vanessa Warwick, die uns das Headbangen lehrte, den Paul King, der uns Alternative-Klänge näher brachte, die Simone Angel, die uns auf die Tanzfläche zerrte, und die Kristiane Backer, die "unser" MTV-Gesicht war. Nachfolgenden Generationen ist das natürlich völlig wurscht - für sie ist Cokes ein Getränk, King ein Burger-Bräter und beim Backer gibt's Brötchen. Ihre popkulturelle Deutungshoheit haben MTV und das Musikfernsehen längst auf dem highway to hell ins Nirvana verloren. Durch eigenes Zutun in Form von austauschbaren Moderatoren ohne Charisma, Reality-Doku-Schwemmen und nervtötenden Klingelton-Werbungs-Dauerschleifen. Aber auch, weil ihr Sendekonzept dem Internet-Zeitalter nicht standhielt.
Einst revolutionierte MTV die TV-Landschaft. Und das nicht nur mit der schnöden Musik, sondern mit Witz, Kreativität und einer bis dato einzigartigen Clip-Ästhetik. Doch mittlerweile hat die Clip-Revolution längst ihre Mutter gefressen. Youtube gibt es tatsächlich noch keine neun Jahre, aber binnen kürzester Zeit schaffte es der Videoschnipsel-Dienst im Web, einen neuen Umsturz vom Zaun zu brechen, gegen den der MTV-Aufstand von einst nur noch wie Kinderlieder mit Rolf Zuckowski anmutet.
Video killed the Radio Star? Von wegen. Die Prophezeiung, die vom ersten je bei MTV gesendeten Musikvideo des One-Hit-Wonders "The Buggles" ausging, hat sich nicht erfüllt. Ob ihre Musik im Radio - und sei es das Internet-Radio - gespielt wird oder nicht, beeinflusst noch immer maßgeblich das Wohl und Wehe von Popkünstlern. Auch davon, dass wiederum das Internet dem Fernsehen an sich den Garaus bereiten würde, sind wir wohl noch ein gutes Stück weit entfernt. Dem Musikfernsehen jedoch versetzte die plötzliche Möglichkeit, frei zu wählen anstatt sich von linearen Sendeabläufen den vorgefertigten Konsum bestimmter Inhalte in bestimmter Reihenfolge diktieren zu lassen, den Todesstoß.
Platzhirsche und Leitwölfe
Nun ja, fast jedenfalls. Denn tatsächlich ist MTV, heute im Besitz der Medienkrake Viacom, in seinem Heimatland USA nach wie vor von mehr als 80 Prozent der Haushalte ohne spezielle Zusatzgebühren empfangbar. Für den Namenszusatz "Music Television" läuteten allerdings, der Senderentwicklung Rechnung tragend, 2010 die hell's bells. Hierzulande und in zahlreichen anderen Staaten führt der einstige Popprimus indes nur noch ein Nischendasein im Pay-TV. Ohne Geld auf den Tisch zu legen, gibt es lediglich noch den früheren Konkurrenten Viva zu sehen - mittlerweile ebenfalls im Besitz von Viacom. Seinerzeit mit so hochtrabenden Zielen wie das CNN des Musikfernsehens zu werden gestartet, ist er nun die vorrangige Abnudelstation von Reality-TV- und Comic-Formaten. Zielgruppe: 14 bis 29.

Der Sender "Joiz" versucht seit August, das Musikfernsehen ein Stück weit für eine jüngere Zielgruppe wiederzubeleben.
(Foto: picture alliance / dpa)
Ähnliche Alterskohorten dürfte der vor Kurzem auch in Deutschland eingeführte Schweizer Sender "Joiz" im Blick haben. Er versucht, das Musikfernsehen mit Kinderkram-Programmen ("Berufstraum: BMX-Profi") und den neuen Medien zu versöhnen und somit auch für die Skinny-Jeans- und Jutebeutel-tragende Facebook-Generation wieder interessant zu machen - Ausgang ungewiss. Nur eines kann als sicher gelten: Für eine televisionäre Konterrevolution wird das nicht reichen. In Sachen Musik hat sich das Internet in wenigen Jahren nicht nur zum Platzhirsch aufgeschwungen, sondern zu einer ganzen Platzherde. Youtube ist und bleibt dabei auf absehbare Zeit der Leitwolf der Clip-Kultur, auch wenn er sich mit seinen Gema-Restriktionen für bestimmte Musikvideos gelegentlich wie ein Leithammel geriert. Macht aber auch nichts. Dafür schießen auf dieses Segment spezialisierte Plattformen - von Tape TV und Muzu TV bis Vevo und Ampya, um nur einige zu nennen - geradezu wie Pilze aus dem Boden.
Doch zurück zu MTV: Obwohl dieser Funktion längst entledigt, schaffte es die Marke bis heute, sich noch immer regelmäßig als popkultureller Gradmesser ins Gespräch zu bringen - durch ihre alljährlich vergebenen "Music Awards". Ob ein "Skandalauftritt" wie der von Miley Cyrus bei der jüngsten Verleihung der Preise in den USA dabei ganz bewusst inszeniert wurde, um ein Absinken der Aufmerksamkeitsschwelle auch ja zu verhindern, sei einmal dahin gestellt. Aber natürlich trug die Peepshow der geili Miley ungemein dazu bei, dass auch wirklich niemand vergaß, über das Ereignis lang und breit zu berichten.
Mehr als nur ein Affront
In einer Woche, am 10. November 2013, werden in Amsterdam die diesjährigen "MTV Europe Music Awards" (EMA) über die Bühne gehen. Dann wird sich nicht nur ein Sender, der auch offiziell kein "Music Television" mehr ist, abermals anachronistisch zum Schiedsrichter über Electronic und Pop, Hip-Hop und Rock aufschwingen. Er wird dies noch dazu auf einem Kontinent tun, auf dem ihn praktisch niemand mehr guckt. Dass die Verantwortlichen bei Youtube das EMA-Datum im Kopf hatten, als sie just den 3. November für ihre "Music Awards" festlegten, darf ruhig bezweifelt werden. Schließlich regiert auch bei der Internet-Plattform ganz und gar der US-amerikanische Blick: Die Preisverleihung startet um sechs Uhr Ortszeit in New York - da ist es etwa in Deutschland haargenau Mitternacht.
Trotzdem könnte das Fernsehfossil noch froh sein, wäre die Verleihung der ersten "YouTube Music Awards" (in bester MTV-Tradition "YTMA" abgekürzt) nur ein Affront. Denn tatsächlich kommt sie dem Ausholen zu einem Genickschlag gleich. MTV mag noch lustig Preise an irgendwelche Stars vergeben - aber auch die Macht, diese Stars zu gebären, hat der Sender mit seinem Gang in die musikkulturelle Bedeutungslosigkeit eingebüßt. Schon eher werden Popgrößen der Marke Justin Bieber oder Mister "Gangnam Style" Psy heute von Youtube-Nutzern gemacht. Dementsprechend demokratisch fiel auch die Auswahl der YTMA-Nominierten, über die bis Samstag abgestimmt werden konnte, aus. Im Wesentlichen basierte sie auf den Abrufzahlen der jeweiligen Clips bei dem Videoportal.
Zu der von Comedian Reggie Watts sowie Schauspieler und Musiker Jason Schwartzmann moderierten Awards-Zeremonie versammelt Youtube nun Superstars wie Lady Gaga, Eminem, Arcade Fire oder Avicii. Nicht nur die eigentliche Verleihung kann weltweit im Livestream verfolgt werden, bereits im Vorfeld überträgt die Plattform fünf Musikereignisse live aus Seoul, Tokio, Moskau, London und Rio. Mit der Veranstaltung schickt sich YouTube an, MTV auch noch seine letzte vermeintliche Domäne streitig zu machen. Angesichts der Kräfteverhältnisse zwischen der hundertprozentigen Google-Tochter und der gefallenen Kultmarke über kurz oder lang ein ungleicher Kampf. Es sind die letzten Todesgrüße an MTV aus dem Netz.
Die "YouTube Music Awards 2013" können Sie HIER verfolgen
Quelle: ntv.de