Schulstress, Sex und Melancholie Warum Holden Caulfield nicht alt wird
16.07.2011, 11:45 Uhr
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Vor 60 Jahren, am 16. Juli 1951, bringt der Bostoner Verlag Little, Brown and Company zum Preis von drei Dollar "The Catcher in the Rye" heraus, den ersten und einzigen Roman von J. D. Salinger. Sein Held Holden Caulfield taugt bis heute als Projektionsfläche für den schwierigen Balanceakt des Erwachsenwerdens.
Während manche Bücher 60 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nicht mal mehr bei den runtergesetzten Restexemplaren zu verkaufen sind, werden von "The Catcher in the Rye" noch immer Jahr für Jahr weltweit eine Viertelmillion Exemplare verkauft. Das Buch steht in vielen Ländern als Klassiker der 20. Jahrhunderts in den Lehrplänen der höheren Schulen. Man kann den "Fänger" lieben oder hassen, ihn nicht zu kennen oder ohne Meinung dazu zu sein, ist kaum möglich.
Die Geschichte von Holden Caulfield, der gerade mal wieder von der Schule geflogen ist und es seinen Eltern nicht sagen kann, ist einer der großen Romane vom Erwachsenwerden. Ein Junge landet in der Psychiatrie, weil er vor der gnadenlosen und verlogenen Welt der Erwachsenen zurückschreckt und gleichzeitig so gern dazugehören will. Auf seiner Wanderung durch das vorweihnachtliche New York malt er sich aus, wie er als Fänger im Roggen Kinder davor bewahrt, in den Abgrund zu stürzen. Diese Geschichte kann 2011 noch genau so passieren. Das ist für Gerd Hurm ein Grund, der "es auch heute noch leicht macht, das Buch zu lesen".
Hurm ist Leiter des Zentrums für Amerikastudien an der Universität Trier. Einer seiner Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind die amerikanische Literatur und Kultur der Nachkriegszeit. Er hat den Roman vor kurzem in einem Unterrichtsprojekt behandelt, um eine Antwort auf die Frage zu finden, ob "Der Fänger im Roggen" überhaupt noch interessant ist.
Alltägliches Pubertätsdrama
"Dabei hat sich herausgestellt, dass Schüler und Studierende die Verwirrung und die Orientierungslosigkeit von Holden Caulfield nach wie vor faszinierend relevant finden. Das ist ein jung gebliebenes Jugendbuch." Das liegt zunächst daran, dass der Einstieg über das alltägliche Pubertätsdrama relativ einfach ist. "In diesen kleinen Dingen scheinen dann die anderen Dimensionen auf. Einer fliegt von der Schule, er weiß nicht, was er auf der Schule soll. Da stellt sich die Frage nach den Inhalten des Bildungssystems. Er muss sich vor den Eltern verstecken, die von dem Schulverweis noch nichts wissen. Dadurch werden die Tage zu einer Sinnsuche und zu einer Suche nach Kontakten und Geborgenheit. Deshalb empfinden viele Leser, das könnten auch meine Fragen und Probleme sein."
Wer "The Catcher in the Rye" allerdings auf diese Ebene reduziert, wird dem Roman nicht gerecht und wird auch die nicht nachlassende Faszination kaum verstehen. Holden Caulfield ist nach Hurms Ansicht ein zutiefst traumatisierter Held. Als der Roman erschien, waren der der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki jüngste Geschichte. Jerome D. Salinger, bei Erscheinen des Buches gerade 32 Jahre alt, hatte all dies als junger Erwachsener erlebt und Caulfield in seinen Rucksack gepackt. "Diese Erfahrung ist im Roman dadurch gespiegelt, dass Caulfields kleiner Bruder an Leukämie stirbt. Da stellt sich die existenzielle Frage, warum Unschuldige sterben müssen."
Existenzielle Fragen in harter Sprache
In der Übersetzung von Eike Schönfeld ist "Der Fänger im Roggen" bei rororo als Taschenbuch erschienen und kostet 8,99 Euro.
2011 verbinden Jugendliche solche existenziellen Ängste mit anderen Ereignissen, Hurm nennt Tsunamis, Fukushima oder die Anschläge vom 11. September. "Die Fragen lauten: Wollen wir uns in diese Welt integrieren, und wenn ja wie? Sollen wir opponieren? Wie können wir uns wehren oder schützen?" Für die Antworten liefere "Der Fänger im Roggen" noch immer wichtige Impulse.
Nicht zuletzt hat Salinger seinem Holden Caulfield eine Sprache gegeben, die in den 1950-er Jahren einem Tabubruch gleichkam. In der Originalausgabe kommt 225 mal der Begriff "goddam" vor, 44 mal sagt Caulfield "fuck". Es dauert bis zum Jahr 2003, bis der Übersetzer Eike Schönfeld Caulfield auch im Deutschen seine drastische Sprache zurückgibt. Schönfeld war einer der wenigen, der das Buch weder in der Schule noch als Teenager aus eigenem Antrieb gelesen hatte. Im Gespräch mit n-tv.de erzählt er, dass er um die Bedeutung als "Kultbuch" zwar gewusst habe. Seine Unkenntnis habe ihm aber möglicherweise zu einem "nüchterneren und damit analytischeren Zugang" verholfen.
Schönfeld ging es darum, der psychischen Verfasstheit Caulfields Ausdruck zu verleihen. "Holden ist 17, also spricht er auch wie ein 17-Jähriger, und zwar wie mit seinesgleichen. Er spricht also schnoddrig, rüde, wütend, abschätzig, großspurig, manchmal voller Hass; er bramarbasiert, jammert, ist empört, enttäuscht, selbstmitleidig." Diesem Einsamen gibt Salinger als schützenden Panzer die Sprache. "Sie ist im Grunde eine überdrehte, hysterische, rüde Umgangssprache, die sich durch einige Dutzend stakkatoartig wiederholte Signalwörter, Floskeln, Anhängsel, durch geborgte Flüche, großmäulige Sentenzen kennzeichnet. Mir wurde relativ bald klar, dass die Übersetzung damit steht und fällt, dass dieser relativ begrenzte Wortschatz und dessen ständige Wiederholung beibehalten wird. Also habe ich mir eine Liste dieser Begriffe gemacht und mich streng daran gehalten, jedenfalls meistens." Schönfeld ist für seine Übersetzung hoch gelobt worden, gerade weil "Holdens Sprache oft genug holpert, weil die Ausdrücke manchmal haarscharf daneben gehen - aber genau das markiert eben ihre Aufgesetztheit und stellt Holdens tiefe Unsicherheit bloß."
Rätselhafter Autor
Weil am Ende offen bleibt, wie Caulfield sich entscheidet, bietet Salinger "eine große Projektionsfläche für Leser". Caulfield selbst bleibt die "immer-jugendliche Ikone, so wie Marylin Monroe oder James Dean oder John F. Kennedy" und hinterlässt dem Leser die Aufgabe, selbst Entscheidungen zu treffen. Salinger entscheidet sich nach dem gigantischen Erfolg seines "Fängers im Roggen" für ein extrem zurückgezogenes Leben, wie es sich auch sein Held Holden Caulfield zwischendurch als Ideal ausmalt. Er verstummt als Autor, verweigert Interviews und Fotos und lebt wie ein Eremit, .
Seine Bewunderer haben sich von dieser Weltentfremdung nicht abschrecken lassen. Zahlreiche Künstler und Autoren beziehen sich auf Holden Caulfields revoltierende Verletzlichkeit und seinen moralischen Individualismus. Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio nannte Salinger in seiner Dankrede eine seiner wichtigsten Inspirationen, weil "es ihm gelungen ist, uns in die Haut eines 16-jährigen Jungen namens Holden Caulfield schlüpfen zu lassen". Das alles mag die "Catcher in the Rye"-Hasser nicht beirren. Doch selbst denen gibt Hurm noch eine Chance: "Man geht an Bücher in verschiedenen Lebensphasen immer wieder anders heran. Deshalb lohnt es sich, Bücher wieder zu lesen. Aber es kann durchaus sein, dass einem der Zugang verwehrt bleibt, weil man mit der Figur nichts anfangen kann. Dann zieht sich der Roman, denn er hat keine Vielfalt in der Tonlage oder in der Handlungsbandbreite. Entweder man kann sich Caulfield annähern, oder man kann das nicht."
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Quelle: ntv.de