Late Bloomers - Spaß mit Ü60 "Alt werden ist nichts für Weicheier"
06.09.2012, 09:50 Uhr
Sex im Alter - hui, ein schwieriges Thema.
In den Augen von Kindern sind Eltern mit 30 an ihrem Verfallsdatum angelangt. Aber - wann ist man alt? Wenn man eine Brille braucht? Ein Hörgerät? Viagra? Oder ist es nur der eigene Blick, der die schlaffe Haut zum Indiz fürs "Altsein" bietet? Isabella Rossellini und William Hurt kämpfen jedenfalls tapfer und mit Humor dagegen an.
"Alt werden ist nichts für Weicheier", sagte bereits Bette Davis, und die musste es wissen, wurde sie doch immerhin 81 Jahre alt. 20 Jahre weniger haben Mary (Isabella Rossellini) und Adam (William Hurt) auf dem Buckel, als sie feststellen, dass sie "auf der anderen Seite" gelandet sind. "Und wir haben es gar nicht gemerkt, Adam", sagt Mary, die seit Kurzem unter kleinen Gedächtnisstörungen zu leiden meint, zu ihrem Mann, "aber wir sind alt!" Während Mary nun beginnt, sich "altersgerecht" zu verhalten - sie geht öfter zum Arzt, zur Wassergymnastik und kauft Griffe für die Badewanne und die Toilette - geht Adam den anderen Weg. Er hasst, dass sein Telefon neuerdings große Tasten hat, und orientiert sich privat und beruflich in Richtung jugendlich.
Der Film von Julia Gavras lässt sich Zeit, seine Figuren zu zeigen, zu erklären, und man spürt, wie sich Mary quält und fragt, wo die Zeit nur hin und wann "es" passiert ist, dieser Übertritt ins Seniorenabteil. Herrliche Szenen sind das, wenn Adam, der ganz gegen seine sonstige berufliche Strategie - er plante bisher Flughäfen und Bahnhöfe - beauftragt wird, ein Seniorenheim zu entwerfen, und bei der Recherche in einer bereits bestehenden Einrichtung von einem Pfleger freundlich und bestimmt gefragt wird. "Na, verlaufen? Soll ich Sie in Ihr Zimmer bringen?" Adams Antwort darauf ist, sich fortan jugendlich zu trimmen, das Jackett gegen einen Hoodie zu tauschen und die Lederschuhe gegen Sneakers, während seine Frau sich daran macht, die Wohnung altersgerecht einzurichten. Beobachtet wird sie dabei von ihrer Mutter, die dem Treiben ihrer Tochter mit großer Skepsis gegenübersteht.
Adam, der seine Rolle als erfolgreicher und preisgekrönter Architekt bis jetzt sehr genossen hat, zieht auf der Flucht vor der neuen "Macke" seiner Frau ins Büro. Es kommt, wie es kommen muss: Der charismatische Best Ager wird von einer jungen Architektin im Team angeschmachtet, was sein ramponiertes Selbstbewusstsein zu neuen, kreativen Meisterleistungen anregt. Mit Red Bull im Magen und einem neuen Team sitzt er nächtelang wach und arbeitet an einem für ihn genre-untypischen Entwurf eines Museums.
Währenddessen ist Mary nicht untätig. Sie versucht, sich ehrenamtlich zu engagieren, ihre Zeiten als Übersetzerin sind vorbei, die Kinder aus dem Haus und die Enkel recht anstrengend. Sie will sich nützlich machen, wird aber von potenziellen neuen Arbeitgebern angesprochen, als wäre sie tatsächlich alt, tüdelig und schwerhörig. Eine wirklich harte Vorstellung, dass Frauen mit wippenden Pferdeschwänzen, die sich selbst für unglaublich dynamisch halten, bloß weil sie jünger sind, mit etwas älteren Menschen umgehen, als hätten sie eine Krankheit. Angeblich fühlt man sich ja acht Jahre jünger, als man ist - Mary wäre demnach also Anfang 50, da kann man noch in der Situation sein, relativ junge Kinder zu haben, mitten im Berufsleben zu stehen, eine sexy Ausstrahlung haben und vieles mehr. Wie Isabella Rossellini diese "Anstrengungen" spielt, ist wirklich beachtlich, und sie dabei zu beobachten, amüsiert und macht nachdenklich gleichzeitig.
Auch Alte sind Menschen
"Ich habe eine Neuigkeit für Sie, auch Sie werden in die Jahre kommen", witzelte die im Sommer 60 Jahre alt gewordene Isabella Rossellini gegenüber einer wesentlich jüngeren Journalistin der "Huffington Post". Sie verweist nachdrücklich darauf, warum sie "Late Bloomers" mit besonderem Engagement und Freude gedreht hat und sagt etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte: "Menschen in der zweiten Lebenshälfte arbeiten, sind kreativ, haben Sex und gestalten unsere Gesellschaft wesentlich mit, indem sie ihr Geld unter die Leute bringen." Längst aus der werberelevanten Zielgruppe heraus, haben die 60-Jährigen von heute genauso Lust auf neue Autos, schicke Klamotten und schöne Reisen wie jüngere Menschen - hat das tatsächlich noch niemand erkannt?
Doch. Die Regisseurin Julia Gavras, Tochter des legendären Filmemachers Costa-Gavras ("Z"), darf sich nun in die Reihe derjenigen Kreativen begeben, die erkannt haben, dass man als Nicht-mehr-ganz-Jugendlicher dennoch Anspruch auf Spaß, Unterhaltung und Ernsthaftigkeit hat. Man giert geradezu nach Filmen mit Gefühl und Geist, Intelligenz und Ironie. Spielfilme wie "Wolke 9" von Andreas Dresen und gerade erst "Bis zum Horizont, dann links!" von Bernd Böhlich, "Liebe" von Michael Haneke, der im Mai 2012 in Cannes die Goldene Palme errang, oder in den letzten zwei Jahren die beiden italienischen Produktionen "I am Love" und "Das Festmahl im August", die melancholische Komödie "Giulias Verschwinden" und Clint Eastwoods "Gran Torino" sind herausragende Beispiele für unterhaltende Spielfilme, die mit Anspruch und Augenzwinkern zugleich das Dasein von Menschen fern allen Jugendwahns reflektieren. Und das Beste: Das Publikum geht tatsächlich ins Kino und kauft sich eine echte Karte aus Papier, statt sich den Film illegal runterzuladen.
"Late Bloomers" allerdings ist auch kein spezifischer Film über das Altern, sondern die Geschichte eines Paares, dem das, was Mary und Adam hier zustößt, in ähnlicher Form auch in einer anderen Altersklasse passieren könnte: Die Sprachlosigkeit, das Nicht-Sehen des anderen, das Auseinanderleben, und die Erkenntnis, es doch noch mal zu versuchen, das geht 30-Jährigen nach einer Weile meist nicht anders. Von Älteren erwarten wir nur immer, dass sie gefälligst wissen, wie der Hase läuft, dass sie sich vorbildlich verhalten, dass sie abgeklärt sind. Gefühle wie Eifersucht, Angst, Selbstzweifel sollen Alte bitte nicht mehr plagen, was sind denn das für Aussichten sonst? Auch das Thema Sex jenseits der 49 wird immer stärker im Kino angefasst: Adam und Mary lieben ihren Sex, er ist nicht mehr so akrobatisch, aber schön. Und doch reicht das nicht, um eine Beziehung beieinander zu halten, da muss mehr her.
Großartig sind die Familienverhältnisse hier dargestellt: Die erwachsenen Kinder sind unkitschig, hilflos, giftig zueinander und lieb, wie Geschwister nun mal sind. Mit der Situation ihrer Eltern sind sie schlicht überfordert. Ein tragischer Fall in der Familie führt sie alle wieder zusammen - und auch das erzählt die Regisseurin ohne Pathos, ganz klar. Einzig die beiden außerehelichen amourösen Abenteuer des Paares werden etwas lieblos abgewurschtelt - aber vielleicht soll da ja auch gezeigt werden, dass das ganze eher eine lieblose Aktion ist. Das junge Mädchen fällt dem angehimmelten Stararchitekten recht schnell um den Hals, die Gattin, lediglich darauf aus, einmal wieder Beachtung bei den Männern zu finden, lernt prompt einen gut aussehenden, etwas jüngeren Mann kennen, der sofort weiß, was Frauen wollen … naja, vielleicht ist das ein bisschen zu klischeehaft. Egal, Isabella Rossellini dabei zuzugucken, wie sie ihre Haut am Hals strafft oder sich die Wimpern tuscht mit Brille auf der Nase, sind so herrliche Nahaufnahmen, dass man über jeden anderen Makel hinwegsehen kann. Sie ähnelt ihrer Mutter Ingrid Bergman immer mehr, und sie ist wohl tatsächlich komplett unoperiert, ungebotoxt, ungeliftet. Sich in sie zu verlieben, dürfte nicht nur ein Leichtes für William Hurt sein, der den sympathischen Grantler gibt, sondern auch für den Zuschauer.
Lieber alt als tot, oder?
Auch die anderen Personen sind so einzigartig, wie es in Familien- und Freundeskreisen nunmal ist: Großmutter Nora (Doreen Mantle) ist eine wunderbar schrullige und mit weisem Wortwitz agierende alte Dame, die genau weiß, was sie will, Marys Freundin Charlotte (Joanne Lumley) ist eine schicke, lebensbejahende und selbstbewusste Selfmade Woman, und als Engländerin durch und durch mit trockenem Humor und viel Tatkraft gesegnet. Großartig die Szene im Nachtclub, wo Adams Freund Richard (Simon Callow), ein exzentrischer Immobilienmakler, ihm erzählt, wie lange er abends braucht, um sich auszuziehen und sein ganzes durchsexualisiertes Verhalten damit ad absurdum führt.
Fazit: Dieser Film führt auf jeden Fall dazu, dass man sich mal Gedanken übers Alter macht und nicht gleich an Tena Lady, Rollator oder dritte Zähne denkt. Alt zu werden ist schön, wenn man nicht alt werden würde, wäre man ja tot. Man hat also Glück, wenn man alt ist. Vielleicht sollte man daran mal wieder denken, wenn man auf einen älteren Mitbürger wie auf einen minderbemittelten Trottel einredet und das Wort "alt" als Schimpfwort benutzt.
Quelle: ntv.de