Musik

"Ich lebte im Bordell" Marc Almond erinnert an seine Anfänge

Marc Almond ist zwar 60, in seinem Kopf  aber "immer noch in den Vierzigern".

Marc Almond ist zwar 60, in seinem Kopf aber "immer noch in den Vierzigern".

(Foto: imago/Andreas Weihs)

Als Teil von Soft Cell feierte Marc Almond in den Achtzigern riesige Erfolge. Mit "Shadows and Reflections" veröffentlicht er nun ein Soloalbum mit großartigen Chansons. Im n-tv.de Interview erzählt er von seinem 60. Geburtstag, seiner Liebe zu Jacques Brel und seiner Dohle.

Mit dem Hit "Tainted Love", einer Coverversion des 1964 von Gloria Jones aufgenommenen Titels aus der Feder von Ed Cobb, gelang dem Synthiepop-Duo Soft Cell der Durchbruch. Sänger Marc Almond begeisterte aber auch immer wieder mit tollen Soloprojekten, aus denen unter anderem der Hit "Something's Gotten Hold Of My Heart" hervorging. Auf seinem neuen Werk "Shadows And Reflections" taucht er in die Welt des 60er-Jahre-Pop ein - mit orchestralen Arrangements ikonischer Liebeslieder von Burt Bacharach, The Yardbirds oder den Young Rascals. Und das klingt verdammt gut! Almond wirkt auch mit sich im Reinen, als er mit n-tv.de Bilanz über sein Leben zieht.

n-tv.de: Mr. Almond, ich treffe nach Ihnen noch Marilyn Manson zum Interview, mit dem Sie sich ja einen Welthit teilen.

Marc Almond: Würden Sie ihm bitte all meine Liebe ausrichten? Er ist großartig. "The Beautiful People" und "The Dope Show" gehören immer noch zu meinen Lieblingssongs. Und ich liebe seine Version von "Tainted Love". Es ist die beste Coverversion meines Songs! (lacht) Sagen Sie ihm das.

Sie sind im Juli dieses Jahres 60 geworden. Wie haben Sie gefeiert?

Meine Freunde haben in London eine denkwürdige Überraschungsparty für mich geschmissen - mit großem Dinner. Ich hatte das wirklich nicht erwartet. Es waren sogar Leute aus New York und Russland da und natürlich meine Familie. Es war großartig und wundervoll. Aber so ist es schon das ganze Jahr.

Was hat Sie denn in den letzten Monaten beglückt?

Marc Almond im Jahr 1984.

Marc Almond im Jahr 1984.

(Foto: imago/Future Image)

So vieles! Es gab eine Ausstellung über mich mit einer interessanten Auswahl von Fotos und Kunstwerken. Ich habe den Ehrendoktortitel der Philosophie der Edge-Hill-Universität in Lancashire erhalten. Dann war da das Box-Set "Trials Of Eyeliner" und eine Greatest-Hits-Compilation, die in Großbritannien in die Top 10 einstieg. Und ich habe nach vielen Jahren wieder einen Plattenvertrag bei einem Majorlabel unterschrieben. Mehr Würdigung hätte ich mir zu meinem 60. Geburtstag gar nicht wünschen können.

Wie alt fühlen Sie sich?

Ich bin immer noch in meinen Vierzigern in meinem Kopf. Ich weiß nicht, wie das Alter mir passieren konnte. (lacht) Aber das sagte ich auch schon zu meinem 50. Geburtstag. Damals stand ich auf der Bühne und habe gesungen. Und dachte: Wahnsinn, ich habe echt diesen Meilenstein erreicht! Ich hätte mir aber niemals erträumt, die 60 zu passieren.

Aber nun lebt es sich gut damit?

Großartig! Ich bin ein wenig angekommen. Ich mache immer noch Musik. Ich toure hier und da, bin aktiv. Als Schüler hatte ich mir das in dem Alter schlimmer vorgestellt. Menschen um die 60 waren damals wirklich alt, grauhaarig und trugen schlimme Strickjacken. Aber so weit bin ich noch nicht. (lacht)

Haben Sie eine Lebensphilosophie?

Marc Almond bei der Fotosession zum Erscheinen des Albums "You Have" 1984.

Marc Almond bei der Fotosession zum Erscheinen des Albums "You Have" 1984.

(Foto: imago stock&people)

Man lernt wirklich aus seinen Fehlern! Besonders von denen, die man in den ersten 40 Lebensjahren macht. Und wenn man das Glück hat, dann noch 20, 30 oder - um Gottes Willen - gar 40 Jahre weiterzuleben, dann kann man etwas von der Lebensweisheit anwenden. Ich habe mittlerweile ein gutes Gespür dafür, wer ich bin und was ich machen will. Und stampfe auch mal trotzig mit dem Fuß, wenn ich etwas nicht will. Ich mache nur noch, was mich glücklich macht, in den zehn Jahren, die mir noch bleiben.

Ist da etwas, was wir wissen sollten?

(lacht) Wenn ich von "noch zehn Jahren" spreche, ist das meine Art von schwarzem Humor. David Bowie hat uns mit 69 verlassen. Und eine Welt ohne Bowie ist eine schlechtere Welt. Wenn Bowie weg ist, verpasse ich auf Erden nicht ganz so viel und bin nicht ganz so traurig, wenn ich selbst gehen muss. Ich bin also bereit, wann immer der Zeitpunkt sein möge.

Um wen ist es noch schade?

Ich schaue mir gerne ältere Performer an, denn ich fühle, dass man von ihnen lernen kann. Ich habe mir das Konzert von Charles Aznavour an seinem 90. Geburtstag in der Royal Albert Hall in London angesehen. Ich liebe ihn! Er war zerbrechlich und brauchte Hilfe. Aber während seiner zweistündigen Show blühte er auf und wirkte jünger und jünger. Ich war mir sicher, dass das ein Abschied sein würde. Aber zum 91. Geburtstag war er wieder da. Und das Jahr danach auch. Bei Tony Bennett, der auch schon 91 ist, ist es genauso. Diese Leute inspirieren mich für die eigene Zukunft.

Dabei sah es 2004 gar nicht nach einer Zukunft für Sie aus: Nach einem schlimmen Motorradunfall lagen Sie im Koma.

Dass ich dabei nicht draufgegangen bin, ist ein Wunder! Ich hatte böse Kopfverletzungen. Aber ich rappelte mich wieder auf. Ich habe heute noch manchmal Probleme, mir Dinge zu merken: Namen zum Beispiel. Aber vielleicht ist das auch nur ein Altersding. Ich musste mir ja Hunderte von Songs merken, vermutlich ist der Platz in meinem Gehirn einfach belegt. Mal abgesehen von ein paar Schmerzen im Knie, bin ich heute ziemlich fit. Die nerven mich allerdings wirklich, denn ich habe immer viel Energie in Konzerte gelegt und sehr körperliche Vorstellungen abgeliefert. Das geht heute nicht mehr so leicht wie früher.

Auf Ihrem neuen Album covern Sie unbekannte Songperlen aus den Sechzigern mit Orchester und in der Tradition von Künstlern wie Jacques Brel. Wie hat Ihre Liebe zu dem belgischen Chansonnier angefangen?

Durch David Bowie. Ich kaufte mir damals seine Single "Sorrow" von seinem Album "Pinups". Und auf der B-Seite coverte er das Stück "Amsterdam" von Jacques Brel. Darin ging es um das, was auf der Straße passiert, um Prostituierte und das Rotlichtmilieu. Ich hatte nie zuvor einen Song mit solchem Text gehört. Brel war der erste Punkperformer, wenn man so will. Es war die Art, wie er die mutigen Texte über Liebe und den Tod ausspuckte, dabei schwitzend und rauchend. Ich lernte von ihm und Leuten wie Frank Sinatra, dass Singen weniger damit zu tun hat, die richtigen Noten zu treffen, sondern es eher darum geht, eine Geschichte zu erzählen.

Das haben Sie sich dann für Soft Cell zu Eigen gemacht.

Soft Cell bei einem Konzert 1982.

Soft Cell bei einem Konzert 1982.

(Foto: imago/ZUMA Press)

Absolut. Ich hab schon mit 16 in Bands gesungen, meistens waren das Hits der frühen Siebziger von Deep Purple, The Doors, Free, den Beatles oder Bowie. Ich war zwar auch im Schulchor. Aber als wir mit Soft Cell anfingen, war das eine Post-Punk-Band und mein Gesang beeinflusst von Siouxsie Sioux. Ich war also der Anti-Sänger. Und in gewisser Weise sehe ich mich auch heute noch eher als Performer mit Punk-Attitüde und gar nicht so sehr als Sänger.

Wie kam es, dass das erste Soft-Cell-Werk "Non-Stop Erotic Cabaret" voller sexueller Anspielungen war?

Ich lebte als Teenager im Küstenort Southport, wo es nur so von Cabaret-Shows wimmelte. Küstenstädte haben auch immer etwas Anrüchiges. Dann zog ich zum Studieren am Art-College nach Leeds. Meine kleine Kellerwohnung befand sich unter einem Bordell. Anfangs checkte ich das gar nicht, ich dachte immer, die Mädchen, die die ganze Nacht die Treppen rauf und wieder runter gingen, wären Krankenschwestern des benachbarten Hospitals. Aber sie arbeiteten im Rotlichtbezirk. Zu der Zeit gab es einen Serienmörder, der in der Gegend sein Unwesen trieb: der Yorkshire Ripper. Es war also sehr sonderbar, extrem und düster, dort zu leben. Aber es war auch eine tolle Zeit, um mich selbst zu entdecken. Ich spielte damals experimentelles Theater. In jener Zeit begegnete ich auch David Ball und wir gründeten Soft Cell. Der Rest ist Geschichte.

Wo leben Sie heute?

Ich wohne in London. Eine Zeit lang habe ich in Moskau und New York gelebt, und in den Achtzigern war ich viel in Barcelona. Ich merke, dass es an der Zeit ist, aus London wegzuziehen. Irgendwohin, wo ich atmen kann. Ich kann in London derzeit nicht atmen. Die Stadt hat die schlimmste Schadstoffbelastung überhaupt. Aber ein bisschen Liebe habe ich immer noch für die Stadt. Und sie ermöglicht mir, ein sehr einfaches Leben zu leben.

Die Zeiten, in denen Sie es ordentlich haben krachen lassen, haben Sie hinter sich gelassen, oder?

Oh ja. Ich lebe total gesund: Ich esse kein Fleisch, ich rauche nicht, ich trinke nicht. Ich nehme natürlich auch keine Drogen. Dafür tue ich andere schöne Dinge: Den Tierschutz unterstützen zum Beispiel.

Haben Sie selber Haustiere?

Ja, Vögel! Ich habe zwei Papageien und eine männliche Dohle, die wir gerettet haben. Ein Freund von mir unterhält eine Vogel-Auffangstation. Von dort habe ich meine Dohle. Sie ist nun wie ein Haustier, läuft uns im Haus überall hinterher. Ein faszinierendes Tier, nur leider leben Dohlen nicht sehr lange. Ich habe letztes Jahr zu Weihnachten schon meinen Papagei Jacko verloren, den ich 30 Jahre hatte. Das war so eine schlimme Zeit für mich. Er ging mit mir auf Reisen und hat mich überall hin begleitet. Doch dann wurde er plötzlich krank und starb. Ich war am Boden zerstört. Ich bin es eigentlich immer noch. Ich darf gar nicht daran denken, dann könnte ich schon losheulen ... Auch das hat vielleicht auch mit dem Alter zu tun.

Mit Marc Almond sprach Katja Schwemmers

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Quelle: ntv.de

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