Wenn das Leben sinnlos wird Der Film des Jahres: "Perfect Sense"
18.05.2012, 08:01 Uhr
Liebe im Zeichen der Apokalypse: Eva Green und Ewan McGregor
(Foto: Senator)
Apokalypse, totale Vernichtung, das Ende der Welt und der Menschheit - es kommt nicht durch einen Atomschlag oder gar den Dritten Weltkrieg, durch Terrorismus, Seuchen, Naturkatastrophen oder Revolten. Das Ende der Welt, wie wir sie kennen, kommt leise, schleichend - "sinnlos".
"Eines Tages. Eines Tages, mein Junge, wirst du dich verlieben. Und du wirst leiden! Echt verliebt - und voll am Arsch." James' (Ewen Bremner; "Hallam Foe", "Trainspotting") Vorhersage für seinen Kumpel und Arbeitskollegen Michael (Ewan McGregor; "Trainspotting", "Young Adam") trifft schneller ein, als beiden lieb ist. Beide arbeiten in einem Restaurant der Spitzenklasse. Michael ("Fisch ist meine Passion") ist glücklicher Single. Schläft mit Frauen, aber sie dürfen nie bei ihm schlafen. Eine eiserne Regel, an die er sich seit Jahren hält. Eine Regel, die aber ins Wanken gerät, als er zufällig Susan (Eva Green; "Königreich der Himmel", "James Bond - Casino Royale") kennenlernt. Sie ("Meistens falle ich auf Arschlöcher herein") wohnt gegenüber des Hinterausgangs des Restaurants und in einer Raucherpause schnorrt sich Michael von ihr eine Zigarette samt Feuerzeug.
Als Michael Susan eines Abends nach Dienstschluss wiedersieht, lädt er sie kurzerhand in die Küche des Restaurants ein und tischt ihr Seeteufelbäckchen auf. Es kommt, wie es kommen muss: Sie landen in der Kiste, nur diesmal ist es Susans Bett und Michael muss früher gehen, als ihm lieb ist. Aber sie sehen sich wieder, kommen sich näher, öffnen sich, machen sich verletzbar - und "einmalig". Susan offenbart Michael, dass sie keine Kinder bekommen kann, weil ihre Eierstöcke verkümmert sind. Michael wiederum gesteht Susan, dass er einst seine todkranke Freundin, mit der schon die Hochzeit geplant war, in ihrem Todeskampf völlig allein zurückgelassen hat. "Bist du ein Arschloch?", fragt Susan. "Ja, bin ich", lautet Michaels ehrliche Antwort. "Ich bin auch eins. Wir sind ein Arschloch-Paar", erwidert Susan. "Mr. Und Mrs. Arschloch!"
So sinnlos
Klingt alles ziemlich banal. So, als wäre es der 1000. Aufguss einer x-beliebigen Hollywood-Lovestory. Aber das täuscht - und zwar gewaltig: Der Regisseur David Mackenzie ("Hallam Foe", "Young Adam") nimmt diese Liebesgeschichte und verpackt sie in ein Weltuntergangszenario, eines, das zudem hochrealistisch daherkommt - und leise.
Susan, die als Epidemiologin in Glasgow arbeitet, wird zu einem besonderen Fall gerufen, einem Mann, isoliert in Quarantäne. Er ist beim Autofahren plötzlich in Tränen ausgebrochen. Von schierer Trauer überwältigt, beweint er all die erlittenen Verluste seines Lebens, seien es Freundinnen, Familienmitglieder oder einfach nur zerbrochene Freundschaften. Er denkt an all die Menschen, denen er Leid zugefügt hat. Nach der Trauer aber verschwindet sein Geruchssinn. Und der Mann ist nicht allein: Weitere Fälle werden in Edinburgh, Aberdeen, englischen Städten und auch auf dem europäischen Festland gemeldet. Weder Susan noch ihr Chef haben eine Ahnung, um was für eine Krankheit es sich dabei handelt, was sie hervorruft oder wie ansteckend sie ist. Es gibt kein Muster, keine Verbindungen zwischen den Fällen. "Vielleicht geht es von allein weg. Keine Panik!", rät Susans Chef ihr.
Das Leben geht weiter - auch ohne Geruchssinn. Die Speisen werden würziger, salziger, süßer, saurer. Die Menschen gewöhnen sich daran. Viel schlimmer ist allerdings der Verlust all der Erinnerungen die nicht mehr wachgerufen werden können: Geruch und Erinnerungen waren im Gehirn miteinander verbunden. Ohne Gerüche verschwindet auch ein Meer von Bildern der Vergangenheit. Ein glücklicher Sommerurlaub. Der erste Kuss. Das erste Mal. Alles verblasst.
Aber das ist erst der Anfang: In einer zweiten Welle werden die Menschen von Angst überwältigt, dann von rasender Völlerei - und danach verschwindet der Geschmackssinn. Das Essen in Restaurants gerät zur Nebensache. Was zählt, ist die Verabredung. Das Zusammensein. Der soziale Kontakt. Unterhaltungen. Anderen Menschen einfach nur zuhören.
Aber auch das endet. Plötzlich. Wut, Jähzorn und Hass regieren auf den Straßen, in den Häusern rund um den Erdball. Der Verlust eines weiteren Sinnes folgt: Die Menschen sind taub. Es gibt nur noch zwei Strömungen auf der ganzen Welt: Menschen, die durch die Straßen laufen, die plündern, an nichts mehr glauben außer an die Apokalypse. Und es gibt die anderen: Bauern, die rausgehen und ihre Kühe melken. Soldaten, die sich zum Dienst melden. Solche Menschen, die glauben, dass das Leben irgendwie weitergeht. Zum Glücklichsein braucht es nicht viel. Nur ein paar Momente.
Als diese Glücksmomente sich häufen - einem kollektiven Zucken im Temporallappen des menschlichen Gehirns gleich -, geht es ganz schnell. Zuerst herrscht tief empfundene Dankbarkeit dafür, am Leben sein zu dürfen. Dann das allseitige Bedürfnis, füreinander da zu sein, Wärme zu geben, Verständnis, Akzeptanz, Vergebung, übermannt die Menschen. Liebe überflutet sie - und lässt die Menschen blind zurück. Dunkelheit. Völlige, immerwährende Dunkelheit. Das Leben ist völlig sinnlos geworden.
So sinnlich
Eine apokalyptische Liebesgeschichte hat Mackenzie mit "Perfect Sense" geschaffen. Sinnlich, ergreifend, bewegend, aufrüttelnd appelliert der Regisseur mit seinem Werk an die Beständigkeit der Liebe. Er offenbart ein Ende der Welt, das sich im Inneren jedes einzelnen Menschen abspielt und von dort die Außenwelt verändert: Nach und nach verlieren die Menschen einen Sinn nach dem anderen, jeweils durch eine emotionale Krise angekündigt. Dennoch geht das Leben weiter. Bis zum bitteren Ende.
Der Film beginnt leise und endet auch so. Dazwischen ist mitreißend, gewaltig, überwältigend, laut, emotional - wie der kongeniale Soundrack des Deutschen Max Richter, der für den Score zu "Waltz With Bashir" den Europäischen Filmpreis erhielt. Die von einem Oktett eingespielte Musik ist die dritte Hauptrolle des Films und sticht dabei die Stars McGregor und Green sogar aus. Die Höhen und Tiefen eines Lebens, das mehr und mehr jedweden Sinn verliert - es könnte nicht schöner, eindrucksvoller, gefühlsschwangerer klingen. "Darum geht es doch in Filmen: um Gefühle!", lautet Mackenzies Filmfazit. Mit "Perfect Sense" liefert er den Beweis: Nie war der Weltuntergang so sinnlich - und so sinnlos.
Quelle: ntv.de