"Welle von Hass im Internet" Antidiskriminierungsstelle von Beratungsanfragen überrannt
27.06.2023, 16:02 Uhr Artikel anhören
"Millionen von Menschen in Deutschland erleben Diskriminierungen", sagt die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman.
(Foto: picture alliance/dpa)
Für viele Menschen sind Diskriminierungen ein normaler Bestandteil ihres Alltags. Immer mehr Menschen wenden sich an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Für die Bundesbeauftragte ist das ein Zeichen, dass das Bewusstsein dafür wächst. Zugleich sei dies erst "die Spitze des Eisbergs".
Im vergangenen Jahr haben sich so viele Menschen wie nie zuvor an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes gewandt. Insgesamt 8827 Beratungsanfragen zu Diskriminierungen seien eingegangen, sagte die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, bei der Vorstellung des Jahresberichts. Diskriminierungen in Deutschland "treten geballter auf als je zuvor", sagte Ataman. Sie berichtete etwa von einer "nie da gewesenen Welle von Hass im Internet".
Mit einem Anteil von 43 Prozent der Anfragen berichteten die Menschen demnach am häufigsten über rassistische Diskriminierung. Weitere Anfragen bezogen sich auf Diskriminierung aufgrund einer Behinderung (27 Prozent), wegen des Geschlechts (21 Prozent), wegen des Alters (zehn Prozent), wegen der Religion (fünf Prozent) und wegen der sexuellen Identität (vier Prozent).
Behördenleiterin Ataman betonte, dass die Zahl der eingegangenen Beratungsanfragen bei ihrer Stelle nur "die Spitze des Eisbergs" seien. "Millionen von Menschen in Deutschland erleben Diskriminierungen", sagte sie. Vielen sei nicht klar, dass Diskriminierung gesetzlich verboten sei und dass es Möglichkeiten gebe, sich dagegen zu wehren.
Beratungsanfragen seit 2019 verdoppelt
Im Vergleich zu 2021 stiegen die Beratungsanfragen an Atamans Behörde um 14 Prozent, wie es in dem Jahresbericht heißt. Im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 verdoppelten sie sich sogar.
In einem Punkt bewertete Ataman den Anstieg der Beratungszahlen ihrer Stelle positiv: Dieser zeige, dass mehr Menschen sich trauten, gegen Diskriminierung vorzugehen. "Man kann nicht schließen: Mehr Beratungsanfragen bei der Antidiskriminierungsstelle bedeuten mehr Diskriminierung in Deutschland", stellte sie klar. Vielmehr zeige der Anstieg: "Das Problembewusstsein in unserer Gesellschaft ist gewachsen."
Für den Herbst kündigte Ataman eine bundesweite Kampagne an, um die rechtlichen Möglichkeiten zum Vorgehen gegen Diskriminierung bekannter zu machen. Sie rief die Koalition zudem auf, die geplante Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), das den Umgang mit Diskriminierungen regelt, noch in diesem Jahr umzusetzen.
"Wir haben mit dem AGG eines der schwächsten Antidiskriminierungsgesetze in Deutschland", kritisierte Ataman. Kein Land in der EU habe "weniger staatliche Kompetenzen, Menschen bei Diskriminierungen zu helfen, als Deutschland".
Immer noch gebe es Lebensbereiche, in denen Menschen nicht durch das AGG vor Ungleichbehandlung geschützt seien - etwa bei Ämtern und Behörden, in Justiz, Bildung und der Polizei. Dies müsse sich ändern, forderte Ataman.
Diskriminierungen für viele Menschen Alltagserfahrungen
Die Behördenleiterin wies darauf hin, dass Diskriminierungen für viele Menschen zu den ganz normalen Alltagserfahrungen gehören - etwa, wenn Behinderte keine Arbeit bekämen, wenn an Bürgerinnen und Bürger mit türkischen oder arabischen Nachnamen keine Wohnung vermietet werde oder wenn Menschen über 50 Jahre keinen Job mehr fänden.
Sorge bereite ihr, dass diskriminierende Vorstellungen vielerorts salonfähig geworden seien: "Wir können beobachten, wie sich Ressentiments und rechtsextreme Verschwörungsmythen bis weit in die bürgerliche Mitte ausbreiten - in Büros, im Wohnumfeld, in die Schulen", sagte Ataman.
In diesem Zusammenhang sei das jüngste Erstarken der AfD für viele Menschen, die einem Diskriminierungsrisiko ausgesetzt seien, eine besondere Belastung. "Das macht vielen Menschen in diesem Land Angst", sagte Ataman. Dass am Sonntag in Thüringen erstmals eine AfD-Politiker zum Landrat gewählt wurde, wertete Ataman als "historischen Tiefpunkt in der Geschichte der Bundesrepublik".
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wurde 2006 mit Inkrafttreten des AGG gegründet. Ziel des Gesetzes ist es, Diskriminierung aus rassistischen oder antisemitischen Gründen, wegen des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen. Die Antidiskriminierungsstelle berät rechtlich, kann Stellungnahmen einholen und gütliche Einigungen vermitteln.
Quelle: ntv.de, cls/AFP