Tausende Fälle in Georgien Geraubte Zwillinge finden sich auf Tiktok
04.07.2024, 11:06 Uhr Artikel anhören
Die Schwestern Anna Panchulidze (li), und Elene Deisadze wussten nichts voneinander.
(Foto: AFP via Getty Images)
Zwei junge Georgierinnen finden sich auf Tiktok, weil sie sich erstaunlich ähnlich sehen. Sie verstehen sich auf Anhieb, doch erst ein DNA-Test bringt die Wahrheit ans Licht: Die beiden sind eineiige Zwillinge und Opfer eines kriminellen Netzwerks.
Die junge Georgierin Elene Deisadze scrollte im Jahr 2022 auf Tiktok, als sie bei einem Clip zweimal hinschauen musste. In dem Post war ein Mädchen zu sehen, das ihr selbst erstaunlich glich. Die damals 17-jährige Deisadze meldete sich bei Anna Panchulidze, um sie auf diese Ähnlichkeit hinzuweisen. Beide kamen miteinander ins Gespräch. Über Monate hinweg chatteten die gleichaltrigen Teenager miteinander und freundeten sich an. Dabei erzählten sie einander, dass beide adoptiert wurden.
Irgendwann kamen sie auf die Idee, ihre DNA testen zu lassen, um herauszufinden, ob sie vielleicht miteinander verwandt sind. Das Ergebnis: eine riesige Überraschung. Die Genuntersuchung zeigte nicht nur, dass die beiden jungen Frauen verwandt sind, sie bewies, dass sie Geschwister sind und zwar eineiige Zwillinge. "Wir haben uns angefreundet, ohne zu ahnen, dass wir Schwestern sind, aber wir spürten beide, dass uns etwas Besonderes verbindet", sagte Elene der Nachrichtenagentur AFP.
"Ich hatte eine glückliche Kindheit, aber jetzt fühlt sich meine gesamte Vergangenheit wie eine Täuschung an", sagte Anna, die inzwischen an der Universität Englisch studiert. Denn die Mädchen wurden nicht etwa zufällig bei der Geburt voneinander und ihren Eltern getrennt, sondern wurden offenbar Opfer von Babyhandel.
Kriminelles Netzwerk
Georgische Journalistinnen und Journalisten fanden heraus, dass die illegalen Adoptionen über mehr als 50 Jahre hinweg stattfanden. Dahinter stand den Recherchen zufolge ein Netzwerk aus Entbindungskliniken, Kindergärten und Adoptionsagenturen, die zusammenarbeiteten, um die Kinder zu entführen, ihre Geburtsurkunden zu fälschen und sie gegen Geld an neue Familien zu vermitteln. Den Eltern wurde gesagt, die Kinder seien gestorben. Dann wurden die Säuglinge an Adoptiveltern in Georgien oder ins Ausland verkauft.
Deisadze und Pachulidze wurden von der Journalistin Tamuna Museridze unterstützt. Museridze leitet eine Facebook-Gruppe mit mehr als 200.000 Mitgliedern, die sich für die Wiedervereinigung von gestohlenen Kindern mit ihren Eltern einsetzt. Sie gründete die Gruppe 2021, um ihre eigene Familie zu finden, nachdem sie erfahren hatte, dass sie adoptiert worden war.
Die neuen Eltern hätten oft nicht gewusst, dass die Adoptionen illegal waren. Einige hätten sich jedoch "bewusst dafür entschieden, das Gesetz zu umgehen und ein Baby zu kaufen", um die jahrelangen Wartelisten zu umgehen, sagte Museridze AFP. Sie habe Beweise dafür, dass zwischen 1950 und 2006 mindestens 120.000 Babys "ihren Eltern gestohlen und verkauft" wurden. In Georgien zahlten Eltern mehrere Monatsgehälter, um Adoptionen zu arrangieren. Ins Ausland wurden Babys für bis zu 30.000 Dollar verkauft, so Museridze.
Adoption gegen "Gebühr"
Die Adoptivmutter von Elene, Lia Korkotadze, entschied sich gemeinsam mit ihrem Mann für eine Adoption, nachdem sie erfahren hatten, dass sie keine Kinder bekommen konnten. "Aber eine Adoption aus einem Waisenhaus schien aufgrund der unglaublich langen Wartelisten praktisch unmöglich", so die 61-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin.
Im Jahr 2005 habe ihr ein Bekannter von einem sechs Monate alten Baby erzählt, das in einem örtlichen Krankenhaus zur Adoption angeboten wurde - gegen eine Gebühr. Korkotadze sah dies als Chance zu einem Kind und stimmte zu. "Sie brachten Elene direkt zu mir nach Hause", sagte Korkotadze, ohne zu ahnen, dass "etwas Illegales" vorlag. "Es dauerte Monate mit unerträglichen bürokratischen Verzögerungen, bis die Adoption durch das Gericht bestätigt wurde."
"Ich hatte Mühe, die Informationen zu verarbeiten und die neue Realität zu akzeptieren, dass die Menschen, die mich 18 Jahre lang aufgezogen hatten, nicht meine Eltern sind", sagte Anna Panchulidze. "Aber ich empfinde keinerlei Wut, sondern nur große Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die mich großgezogen haben, und Freude darüber, mein Fleisch und Blut wiederzufinden", fügte sie hinzu.
Quelle: ntv.de, sba/AFP