Panorama

Schiffbruch vor zehn Jahren Das verstummte Flüchtlingsboot von Augusta

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Das Boot, auf dem im April 2015 Hunderte Menschen starben, steht heute unzugänglich in Augusta.

Das Boot, auf dem im April 2015 Hunderte Menschen starben, steht heute unzugänglich in Augusta.

(Foto: Paolo Valenti)

Vor zehn Jahren kentert ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer, bis zu 1000 Menschen sterben. Zusammen mit den Leichen wurde auch das Wrack ins italienische Augusta gebracht. Es sollte zum Memento werden, doch es kam anders.

Auf den Tag genau zehn Jahre sind seit einem der verheerendsten aller Schiffsbrüche im Mittelmeer vergangen. Damals kamen zwischen 700 und 1000 Menschen ums Leben. Das Boot war blau gestrichen, 22,5 Meter lang, 7,1 Meter breit und 7,5 Meter hoch. Die Schlepper hatten an die 1100 Menschen hineingepfercht, wie die Überlebenden später berichteten. Das Boot hatte keinen Namen, dafür diesen arabischen Satz am Bug: "Mit Allahs Segen". Es kenterte am 18. April 2015, 77 Meilen von der libyschen Küste entfernt. Die Einsatzkräfte konnten nur 28 Migranten retten.

Damals war Matteo Renzi in Italien Premier einer Mitte-Links-Regierung. Er zeigte sich über das Ausmaß der Tragödie zutiefst betroffen und beschloss, die Leichen aus dem Meer bergen zu lassen, um ihnen eine würdige Bestattung zu gewähren.

Den Entschluss kritisierten die rechten Oppositionsparteien vehement. Sie verwiesen auf den Meereskodex, demzufolge die gekenterten Schiffe und Boote das heilige Grab der Seeleute und Ertrunkenen sind. Wahrscheinlich ging es aber um weitaus mehr als die 9,5 Millionen Euro, die die Bergung aus 400 Meter Meerestiefe kostete.

Nur wenige Tote haben einen Namen

Die Leichen und das Boot wurden in die sizilianische Hafenstadt Augusta gebracht. Dort nahmen sich Cristina Cattaneo, Leiterin des Mailänder Universitätslabors für Forensik (LABANOF) und ihr Team der sterblichen Überreste an. Das Boot wurde zum Nato-Standort in Melilli, einem Stadtteil von Augusta, gebracht.

Den letzten Meldungen zufolge gelang es bis heute, 723 Leichen auszumachen und davon 33 zu identifizieren. Noch immer arbeitet das LABANOF Team daran, weitere Identitäten zuordnen zu können.

Die Bergungsarbeiten und die Identifizierung der Opfer des Schiffsbruchs vor zehn Jahren werden eindrucksvoll in dem Dokumentarfilm Numéro 387 erzählt. Die Nummer # 387 weist auf den Stauraum hin, in dem viele Tote und ein Großteil der Habseligkeiten, die diese Menschen bei sich hatten, geborgen wurden.

Familienalbum im Taschenformat

Darunter befanden sich neben Toilettenartikeln und Schulabschlusszeugnissen auch ein kleines faltbares Taschenfamilienalbum. Trotz der langen Zeit im Wasser konnte man noch die Silhouetten von Alten, Jungen und Kindern erkennen. Auch ein Liebesbrief, in dem von ewiger Treue die Rede war, gehört zu den Zeugnissen der Toten des Bootes.

Neben einer würdigen Bestattung wollte Premier Renzi das Boot auch zu einem Denk- und Mahnmal machen, das vor dem Hauptsitz der EU-Kommission in Brüssel stehen sollte. Italien stelle zwar für viele das Tor in die EU dar, doch alle Länder seien gefragt, an einer menschenwürdigen Lösung beizutragen, hob Renzi hervor. Und auch Papst Franziskus sah in dem Wrack ein Symbol, das an das "Gewissen eines jeden appelliert und die Mauer der Gleichgültigkeit herunterreißt".

Richtig oder am richtigsten?

Doch aus dem Vorhaben wurde nichts, genauso wie aus der Idee, das Boot nach Mailand zu bringen und es im Museum für anthropologische, medizinische und forensische Wissenschaften für Menschenrechte zu zeigen. Es gab nur ein Intermezzo in Venedig. Der Schweizer Künstler Christoph Büchel stellte es bei der Kunstbiennale von Venedig 2019 aus und gab dem Boot den Namen "Barca Nostra", "Unser Boot". 2021 kam es wieder nach Melilli. In Augusta war man nämlich der Meinung, hier, nicht weit vom Ort des Unglücks, würde es seine ganze Symbolkraft entfalten.

Man wollte dafür einen Gedenkgarten anlegen. "Es hört sich skurril an, aber wie mir einmal ein Interviewpartner sagte, schwappt der Tod auch weniger ehrenwerte Gefühle an die Oberfläche", sagt Giorgia Mirto ntv.de. Sie ist Anthropologin und beschäftigt sich in ihrem Studium mit Trauer, Gedenkveranstaltungen und der politischen (Aus)Nutzung der im Meer Ertrunkenen.

"Gleich ob Mailand, Genua oder Augusta" fährt sie fort. "Jeder hatte seine Vorstellung wie man dem Schiffsunglück am richtigsten gedenkt." Wobei, es doch nicht darum gehe, sondern um die Art und Weise wie man gemeinsam der Toten gedenkt. "Büchel hat es auf den Punkt gebracht. Es ist unser aller Boot."

"Damals waren aller voller Tatendrang, heute ist davon wenig übrig", erzählt Enzo Parisi ntv.de. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Verbands "18 Aprile" in Augusta, der sich zusammen mit anderen Verbänden und Bürgern dafür eingesetzt hatte, damit Augusta der Gedenkort wird. "Und das diesjährige Gedenken wird es bildlich darstellen", so Parisi. Es werden sich wenige Leute einfinden. "Und nein, von den Überlebenden wird keiner dabei sein" sagt Parisi. Nicht zuletzt, weil sich keiner von ihnen in Sizilien niedergelassen hat.

Der Karfreitag und die verpasste Prozession

Das mit der Zeit geschwundene Interesse hat mit dem Standort des Wracks in der "Nuova Darsena" zu tun. "Das Neue Hafenbecken liegt nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, gehört aber zum Obrigkeitsgebiet der Hafenbehörde und ist deswegen nicht frei zugänglich. Damit aber nicht genug. Auch aus der Ferne ist das Boot praktisch nicht zu sehen. Auf einer Seite wurden Solarpanels aufgestellt, auf der anderen ist ein Parkplatz für Angestellte und Arbeiter", fährt Parisi fort.

Und dieses Jahr hat es auch mit den Osterfeierlichkeiten zu tun. Der 18. April fällt auf den Karfreitag. Eine gute Fügung möchte man meinen. Am Karfreitag gedenken die Christen Leid und Tod Jesu Christi. An Tod und Leid der vor zehn Jahren ertrunkenen Migrantinnen und Migranten und der unsäglich vielen danach im Mittelmeer Gestorbenen, erinnert das Boot. Eine Prozession zum Wrack von Augusta wäre von starker Symbolkraft gewesen. Doch die gibt es nicht.

2024 starben nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mindestens 2452 Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Die Zahl basiert auf den Erhebungen des UN-Projekts "Missing Migrants" und umfasst sowohl Tote als auch Vermisste. Die tatsächliche Zahl liegt vermutlich noch weit höher, da längst nicht alle Fälle dokumentiert werden können.

Don Giuseppe Mazzotta, der das Boot in der Vergangenheit immer wieder zum Anlass genommen hatte, um auf das Schicksal der Migranten aufmerksam zu machen, will eigentlich nicht mehr darüber sprechen. Im Herbst hatte er der Zeitschrift "Lavialibera" noch gesagt: "Es gibt eine Zeit in der man die Früchte erntet, irgendwann ist diese aber vorbei." Er bezog sich auf die Instandhaltung des Boots, das damals noch immer Wind und Wetter ausgesetzt war. Jetzt schützt es eine Plastikplane über einem Gerüst. "Und weiter?" fragt Parisi. Ohne ein Konzept und die Möglichkeit, sich dem Wrack zu nähern, habe auch das keinen Sinn.

Don Giuseppe bittet um Verständnis, legt aber nicht auf. Es ist, als würde er mit sich kämpfen. Und dann sagt er ntv.de doch noch diesen Satz: "Wir haben dieses Boot verstummen lassen."

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen