Berlins neue Problemschule "Das Schulsystem befindet sich mitten im Kollaps"
06.02.2025, 15:45 Uhr Artikel anhören
Seit September 2024 musste die Berliner Polizei zu zehn Einsätzen an die Friedrich-Bergius-Schule ausrücken.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Friedrich-Bergius-Schule in Berlin macht seit einigen Monaten Schlagzeilen, als die neue Problemschule der Stadt. In einem Brandbrief der Lehrer und der damaligen Schulleiterin Andrea Mehrländer Ende November ist von Gewalt, Beleidigungen und Mobbing die Rede gewesen. Mitte Januar musste die Polizei eingreifen, ein Schüler war von Jugendlichen anderer Schulen gejagt worden. Immer wieder gibt es Polizeieinsätze, unter anderem wegen Reizgasvorfällen. Dieter Dohmen beobachtet auch an anderen Schulen eine Zunahme an Gewalt. Mitschuld daran sei eine aggressivere und respektlose Gesellschaft, angestachelt durch Social Media, sagt der Direktor und Gründer des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
ntv.de: Sind die Zustände an der Friedrich-Bergius-Schule normal für Berlin?
Dieter Dohmen: Hoffentlich nicht. Aber Jugendliche werden herausfordernder, mit ganz unterschiedlichen Ursachen. Es ist nicht nur ein Berliner Thema. Wir sehen in Brandenburg rechtsextreme Vorfälle. Auch an anderen Schulen gibt es Gewalt und Gewaltandrohungen unter Schülern oder gegenüber Lehrkräften. Das ist ein Stück gesellschaftliche Veränderung. Gewalt und Aggressivität nehmen zu, auch im Straßenverkehr. Es bricht sich eine grundlegende Veränderung bahn, wie vor gut 15 Jahren in der Rütli-Schule.
Die Berliner Polizei hatte allein in diesem Schuljahr bereits zehn Einsätze an der Bergius-Schule. Können Sie Zahlen zu Gewaltvorfällen an Schulen allgemein nennen?
Mehrere zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler haben Mobbing- und gewaltähnliche Erfahrungen gemacht. Drei von vier Lehrkräften wurde schon mal Gewalt angedroht. Schüler verhalten sich ihnen gegenüber unangemessen. Alle berichten, dass Gewalt und Aggression deutlich zunehmen. Andererseits sind die Anzeigen zur Schulgewalt bei der Polizei insgesamt rückläufig.
In dem Brandbrief der Friedrich-Bergius-Schule ist von Angriffen der Schüler auf die Lehrer die Rede. Aber auch Schüler berichten, dass die Lehrer sie beschimpft und unangemessen behandelt haben. Ist der gegenseitige Respekt verloren gegangen?
Der Respekt nimmt in weiten Teilen der Gesellschaft ab. Dafür gibt es viele Ursachen. Auf Social Media sind wir mit Gewaltvideos konfrontiert. Die Schüler sehen auf dem Schulweg bei Tiktok und anderen Kanälen, wie jemand enthauptet, vergewaltigt oder kastriert wird. Das hat Auswirkungen auf die jungen Menschen. Man bekommt das Gefühl: Ich muss nur aggressiv genug sein, um mich durchsetzen zu können.
Der langjährige Schulleiter Michael Rudolph hat die Friedrich-Bergius-Schule von einer Problemschule zu einer begehrten Bildungseinrichtung entwickelt. Er galt als härtester Schulleiter Berlins, hat harte Strafen verhängt, beispielsweise für Zuspätkommer. Ist Strenge das richtige Mittel, um Problemschulen in den Griff zu bekommen?
Ein passendes Maß kann immer hilfreich sein. Gleichzeitig ist ein partizipativer Erziehungsstil für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hilfreicher. Man muss den Mittelweg finden. Bei bestimmten Schülern und Jugendlichen sind Strukturen nötig, um sich Respekt zu verschaffen, auch als Gegengewicht zur nicht mehr stattfindenden Elternerziehung.
Der große Bruch scheint mit dem Wechsel der Schulleitung passiert zu sein. Das heißt nicht, dass die Nachfolgerin schlecht war. Aber die Friedrich-Bergius-Schule hat eine Struktur, wo Frauen einen schwierigen Stand haben und häufig nicht anerkannt werden. Auch die jugendliche Machokultur kann dazu geführt haben, dass die Nachfolgerin nicht den Respekt des alten Schulleiters hatte. Man muss diese Schule vielleicht etwas anders führen, Respekt vermitteln, und das idealerweise qua persona.
Andrea Mehrländer hätte härter durchgreifen sollen?
Offenkundig ist, dass die Schule unter ihrer Leitung entglitten ist. Das kann aber auch mit den Veränderungen der letzten Jahre zu tun haben. Die Corona-Pandemie war für alle Menschen und insbesondere für Kinder und Jugendliche eine riesige Belastung. Es gibt kaum eine vernünftige Aufarbeitung. Es gibt viel zu wenig Jugendpsychologen. Die nächste Unsicherheitssituation war der Ukraine-Krieg. Auch Lehrkräfte wurden durch die Pandemie beeinträchtigt. Die Belastung ist gigantisch. Alle Fachkräfte, auch im Kitabereich, sind massiv überlastet. Das System Schule steht nicht nur vor dem Kollaps, sondern wir sind mittendrin.
In ihrem Brandbrief schreiben die Lehrer der Friedrich-Bergius-Schule auch, dass sie hauptsächlich mit der Erziehung der Schüler beschäftigt sind.
Die Erziehungsbereitschaft der Eltern nimmt dramatisch ab. Sie wollen oft nur noch gute Freunde ihrer Kinder sein. Das führt dazu, dass Lehrkräfte nicht mehr gegrüßt oder im Zweifelsfall sogar angerempelt werden. Das ist wieder ein gesellschaftliches Thema, weil in den Familien die Verantwortung der Eltern und auch die Erziehungskompetenz deutlich abnimmt.
Dazu kommt die Verrohung auf Social Media. Manche Eltern sprechen nicht mehr mit ihren Kindern, sondern schieben sie ab. Sie geben Kindern sehr früh ein Handy, damit sie ruhig sind. Die Sogwirkung von Social Media ist bei Jugendlichen und Erwachsenen groß. Kinder haben noch nicht gelernt, sich selbst zu steuern und zu regulieren.
Nach der Pandemie haben weniger Eltern ihre Kinder an der Friedrich-Bergius-Schule angemeldet. Wie kam es zu diesem Knick?
Bildungsaffine Eltern achten sehr genau darauf, auf welche weiterführende Schule ihr Kind geht. Ein Kriterium ist der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund. Das ist im Übrigen keine Frage von rechts oder links. Diese Eltern sitzen häufig Pseudoinformationen auf, wie dass dort viele migrantische Familien im Umfeld wohnen. Diese Einstellung finde ich schwierig. Das kann trotzdem eine super Schule sein.
Bildungsferne Eltern schicken ihr Kind häufig in die nächstgelegene Schule. Vielleicht weil sie gar nicht wissen, wie kompliziert das deutsche Schulsystem ist.
Rund 83 Prozent der Schüler der Friedrich-Bergius-Schule haben einen Migrationshintergrund. Viele Geflüchtete gehen auf die Schule, auch Kinder von polizeibekannten Großfamilien.
Migrationshintergrund bedeutet nicht automatisch, dass Kinder schlechter lernen. Das Bildungsniveau der Eltern legt fest, wie leistungsstark sie sind. In Deutschland gibt es zu wenige Möglichkeiten für einen Bildungsaufstieg. Unser System ordnet sehr früh zu: Die Friedrich-Bergius-Schule ist eine Sekundarschule. Dort gehen nur Kinder hin, denen man das Abitur nicht zutraut. An integrierten Sekundarschulen, die auch zum Abitur führen, ist das anders. Dadurch steigt automatisch das Leistungsniveau und oft auch die Umgangsformen.
In Berlin gibt es aber Schulen mit hohem Migrantenanteil, die super Ergebnisse erzielen. Dort machen Kinder mit Migrationshintergrund, die gerne per se als leistungsschwach betrachtet werden, das Abitur. Aber Talente und Potenziale identifiziert man nicht mit 30 Kindern in einer Klasse.
Inwieweit ist die Sekundarschule als Schultyp schuld an den Veränderungen der Friedrich-Bergius-Schule?
Das ist keine Frage des Schultyps. Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen gewinnen oft Schulpreise. Sie erreichen auch mit schwierigeren Schülergruppen bessere Leistungen. Das geht auch an Schulen mit hohen Anteilen an Kindern aus schwächeren sozioökonomischen Familien wie der Friedrich-Bergius-Schule. Sie müssen aber die Möglichkeiten dafür haben.
Hätte eine bessere Zusammenarbeit mit den Eltern die Entwicklung aufgehalten?
Eltern sind wichtige Bezugspersonen für die Kinder und die Schule. Bei einem hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund beherrschen die Familien die deutsche Sprache nicht immer hervorragend. Ich muss sie auf Türkisch, Arabisch oder anderen Sprachen ansprechen können. Das ist häufig nicht der Fall. Die meisten Lehrkräfte kommen aus der Mittelschicht und haben keinen Migrationshintergrund. Das Verständnis für Kinder mit schlechten Bildungschancen lernen diese Lehrkräfte de facto nirgendwo.
Und Brennpunktschulen bekommen häufig Quereinsteiger "ab"?
Quereinsteiger sind nicht per se schlechtere Lehrkräfte, aber Lehrkräfte suchen sich oft Schulen aus, die nicht so herausfordernd sind. Warum sollte ich mir eine Brennpunktschule mit herausfordernden Schülern antun, wenn ich dasselbe Gehalt bekomme? Das führt dazu, dass man die besten Lehrkräfte nicht an den schwierigen Schulen findet, sondern an den einfachsten.
Ende Januar hat Engin Catik die kommissarische Schulleitung übernommen. Kann er die Schule retten?
Er hat es bereits an einer anderen Schule geschafft. Insofern scheint er die Voraussetzungen mitzubringen. Ein Vorteil ist sein Zuwanderungshintergrund. Damit könnte er ein Vorbild für Jungs mit Migrationshintergrund sein.
Mit Dieter Dohmen sprach Caroline Amme. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Vollständig können Sie es im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" anhören.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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Quelle: ntv.de, cam