
Ob Leo XIV. ein Traditionalist ist oder ein Reformer, das wird die Zeit zeigen.
(Foto: IMAGO/Independent Photo Agency Int.)
Robert Francis Prevost ist "der neue" Papst. In "Leo XIV. - Der leise Mönch an der Spitze der Macht" erzählt Andreas Englisch die Geschichte des US-Amerikaners, der in Slums predigte und nun die katholische Weltkirche leitet.
"Habemus Papam!" - als diese Worte am 8. Mai 2025 über den Petersplatz hallen, halten Beobachter aus aller Welt den Atem an. Unter ihnen auch Andreas Englisch, seit mehr als 40 Jahren Vatikankorrespondent. Dann folgt der Name: "Robertus Francis Prevost". Ein US-Amerikaner, ein Augustiner. Der Erste seiner Art auf dem Stuhl Petri.
Englisch, der einer der am besten informierten Journalisten ist, wenn es um die katholische Weltkirche geht, hat die Wahl, den Amtsantritt und die ersten Monate von Leo XIV. begleitet. Und er hat ein Buch darüber geschrieben, um das neue Oberhaupt der katholischen Kirche zu porträtieren. Es ist keine klassische Papstbiografie geworden, keine Hagiografie und auch kein Enthüllungsbuch.
Stattdessen legt Englisch eine persönliche, atmosphärisch dichte Erzählung vor. Ein Buch über Macht, die nicht gesucht, sondern ertragen wird. Und über die Frage, ob die Kirche ihre Zukunft vielleicht gerade in einer Art von Spiritualität findet, die nicht laut brüllt, sondern zuhört.
Ein Mönch aus Chicago
Robert Francis Prevost ist kein Mann der großen Gesten. Englisch beschreibt ihn als jemanden, der einen großen Teil seines Lebens sehr weit weg vom Zentrum der Macht verbracht hat: Geboren in einem Arbeitervorort von Chicago, ging der junge Augustinerpater als Missionar nach Peru. Dort, in den Slums und Armenvierteln, stapfte er in Gummistiefeln durch den Schlamm, kochte für die Menschen, betete mit ihnen, lachte mit ihnen. "Bruder Bob" nannten sie ihn - ein Name, der mehr über ihn aussagt als jeder Titel, den er später tragen sollte.
Englisch zeichnet das Bild eines Mannes, für den der Glaube keine Theorie ist, sondern gelebt werden will. Von einem, der nicht in Palästen unterwegs war, sondern in Wellblechhütten. Als Prevost später zum Generalprior der Augustiner gewählt wurde, eines Bettlerordens , schlich sich das Element der Macht langsam in sein Leben. Aber auch als Prior aß er an einem einfachen Tisch in einem Raum, der den Charme einer Jugendherberge hatte, regelmäßig zu Mittag, um nicht sein monatliches Taschengeld von exakt 120 Euro in einer Pizzeria ausgeben zu müssen.
Unverwechselbare Signatur eines Reporters
Das ist eine große Stärke des Buches: Englisch versteht es, das Bild eines Menschen nicht durch die Rezitation trockener Fakten zu zeichnen, sondern durch kleine Szenen, Beobachtungen und Beschreibungen lebendig werden zu lassen.
Wie in seinen früheren Büchern bleibt Englisch seinem Stil treu: gut und flüssig zu lesen, persönlich, manchmal etwas pathetisch, aber selten belanglos. Seine Stärke ist das Auge für und die Beschreibung von Szenen. Er beschreibt die Kardinäle im Vorkonklave, die Journalisten, die durch Rom hetzen, und die Möwen, die sich auf dem Dach der Sixtina niederlassen, unbeeindruckt vom weltgeschichtlichen Moment der Papstwahl. Solche Bilder machen das Buch lebendig.
Gleichzeitig kann nicht übersehen werden, dass Englisch gelegentlich in historische Abschweifungen verfällt. Auch seine ständige Ich-Präsenz ruft zwiegespaltene Gefühle hervor - einerseits ist sie das, was die Texte trägt: die unverwechselbare Signatur eines Reporters, der nicht so tut, als wäre er neutral. Englisch weiß, dass ganz besonders der Vatikan ein Ort ist, an dem jeder Beobachter Teil des Geschehens wird. Andererseits wirkt die Präsenz des Autors zuweilen doch sehr dominant. Sein Buch ist daher keine Biografie im klassischen Sinn, sondern gleicht eher einer Langzeitreportage - ein persönliches Dokument über Nähe und Distanz, Glauben und Skepsis.
Zwischen zwei Kirchenbildern
Je weiter die Erzählung fortschreitet, desto stärker wird der Kontrast zwischen der Schlichtheit des Menschen Prevost und der Wucht des Amtes, das er mit der Wahl vom 8. Mai 2025 übernimmt. Englisch versteht es, diese Spannung zu inszenieren, ohne sie künstlich zu überhöhen. Besonders eindrucksvoll sind die Abschnitte, in denen er Leos theologische und kirchenpolitische Handschrift zu erfassen versucht.
In seiner programmatischen Ansprache vom 19. Mai 2025 bezeichnete der neue Papst Synodalität und Ökumene als "eng miteinander verbunden". Er betrachte es als eine seiner vorrangigen Aufgaben, sich um die Wiederherstellung der vollen und sichtbaren Gemeinschaft unter all jenen zu bemühen, die denselben Glauben an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist bekennen.
Englisch liest diese Worte als bewusstes Echo auf Franziskus und zugleich als Erweiterung seines Ansatzes: weniger konfrontativ, mehr integrierend. Er erinnert daran, dass ausgerechnet ein Augustiner - also ein Ordensbruder Martin Luthers - sich nun den Namen "Leo" gegeben hat. Ein leiser Akt der Versöhnung mit der Reformation. Denn der neue Leo XIV. tritt, gewollt oder nicht, in den Schatten des alten Leo X., jenes Medici-Papstes, der Luther verfluchte und damit die Spaltung des Westens besiegelte. Dass sich die Geschichte jetzt, 500 Jahre später, auf so eigentümliche Weise spiegelt, fasziniert Englisch sichtbar.
Ein Papst auf dem Drahtseil
Wie Leo XIV. einerseits traditionelle Symbole - Mozzetta, Stola, Sommerpalast - wieder aufleben lässt, andererseits aber Themen wie Missbrauchsaufarbeitung, Transparenz und Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt rückt, kann als Versuch gedeutet werden, zwei Kirchenbilder miteinander zu versöhnen: die Institution und das Evangelium. Diese Beobachtung ist klug, weil sie die (schon immer existierende) Spannung zwischen Reformen und der Bewahrung von Traditionen nicht moralisch auflöst, sondern als Realität anerkennt.
Es gelingt Englisch, daraus keine Heiligenlegende zu formen, sondern eine Geschichte über Glaubwürdigkeit. Der Papst, der weint, als er den Fischerring an den Finger gesteckt bekommt, ist bei ihm kein Symbol für Demut, sondern für Überwältigung - für die Unmöglichkeit, dieses Amt wirklich zu fassen.
Leo XIV. – wohin geht die Reise?
Leo XIV. zeigt sich in seinen Äußerungen und Entscheidungen schon lange vor der Papstwahl als Traditionalist, das hebt auch Englisch deutlich hervor. Prevost bestätigt beispielsweise, dass nur die Ehe zwischen Mann und Frau eine Basis für eine Familie sein kann. Er erklärt, dass der Zölibat ein Geschenk sei, das anerkannt, bewahrt und befördert werden muss. Noch als Priester kritisierte der US-Amerikaner im Jahr 2012, dass Massenmedien Lebensmodelle propagierten, die mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar seien.
Dennoch ist für Englisch klar: Leo XIV. hat seine Wahl maßgeblich dem zu verdanken, dass er ein Protegé von Papst Franziskus war. Franziskus aber hätte sich niemals einen traditionalistischen Nachfolger gewünscht. Das passt nicht mit den deutlichen Äußerungen Prevosts zusammen. Und dann sind da noch weitere Dinge, die das Bild eines klaren Traditionalisten brüchig werden lassen: Im August 2025 entschied Papst Leo XIV., eine Kapelle im Andenken an Óscar Romero in Peru zu finanzieren. Romero ist das klare und eindeutige Symbol der Bewegung der Theologie der Befreiung und weltweit der wichtigste Bezugspunkt progressiver Priester. Papst Johannes Paul II. weigerte sich, den sozial engagierten Bischof heiligzusprechen - Romero wurde erst unter Franziskus heiliggesprochen.
Leo XVI. ernannte außerdem einen Priester, der sich besonders um queere Menschen verdient gemacht hatte, zum jüngsten Bischof der USA. Und: Prevost hatte noch als Generalprior eine Reise nach Deutschland in Erinnerung an den Augustiner-Mitbruder Martin Luther angeregt. Er sagte, es sei nicht alles falsch gewesen, was Luther gefordert hat.
Eindeutig progressive Positionen also. Die Frage, welchem Lager sich Leo XIV. nun zugehörig fühlt, lässt sich bisher nicht beantworten. Er geht, wie Englisch betont, bislang einen Mittelweg. So wird das Pontifikat von Leo XIV. in den kommenden Jahren zeigen, wohin die Reise geht.
Quelle: ntv.de