Politik

"Wir sind keine Feinde" Wenn Habeck sich vorstellt, Kretschmer zu sein

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Moderatorin Tanja Samrotzki im Gespräch mit Robert Habeck und Michael Kretschmer.

Moderatorin Tanja Samrotzki im Gespräch mit Robert Habeck und Michael Kretschmer.

Unter den Regierenden könnte die Kluft kaum größer sein als zwischen dem grünen Bundeswirtschaftsminister und dem CDU-Regierungschef von Sachsen. Dennoch wagen Habeck und Kretschmer eine Annäherung. Das gelingt inhaltlich kaum, doch offenbar braucht politischer Streit zuerst ein neues Fundament.

Eine volle halbe Stunde gelingt es Robert Habeck und Michael Kretschmer, ihre Differenzen zu überspielen und das Verbindende zu betonen. Und so viel vorweg: Den Bundeswirtschaftsminister von den Grünen und dem auch für CDU-Verhältnisse konservativen Ministerpräsidenten des selbst nach ostdeutschen Maßstäben sehr konservativen Bundeslands Sachsen verbindet tatsächlich einiges. Und doch sitzen da zwei sehr unterschiedliche Politiker auf dem Podium im Ludwig-Erhard-Saal des Bundeswirtschaftsministeriums anlässlich des hauseigenen Debattenformats "Gespräche zur Transformation". Eineinhalb Stunden suchen die beiden nach den gemeinsamen Nennern und sind dabei erkennbar bemüht, den anderen nicht vor den Kopf zu stoßen.

Doch dieses Fundament trägt keine ganze Abendveranstaltung: Als der um seine Wiederwahl kämpfende Kretschmer zum dritten Mal mehr Bürokratieabbau von Bund und EU fordert und "Freiheit" für Unternehmen und Selbständige anmahnt, entgleiten Gastgeber Habeck die Gesichtszüge. Der Grüne kontert: Er freue sich über Kretschmers Bekenntnis zum Bürokratieabbau, "denn ganz vieles ist Ländersache", sagt Habeck. "Aber Bauordnung? Genehmigung von Windkraftanlagen? Schöne Grüße in das Wunderland." Kichern im Saal, das fachkundige Publikum versteht die Anspielung darauf, dass in keinem anderen Bundesland so wenig Windkrafträder stehen wie in Kretschmers Freistaat.

Kretschmer will Wirtschaft entfesseln

Der 48-jährige Görlitzer und der 54-Jährige aus der Nähe von Flensburg liegen in ihrer Analyse zu den Ursachen der anhaltenden deutschen Wirtschaftsschwäche "ein bisschen auseinander", formuliert Kretschmer höflich. Im November hatte er sich noch über den "Kinderbuchautor" Habeck und dessen "desaströse" Wirtschaftspolitik echauffiert. Grundsätzlich bleibt Kretschmer auch im Ludwig-Erhard-Saal bei seiner Analyse: Ein "bürokratischer Moloch" ersticke jede wirtschaftliche Initiative, die Energiepreise seien wegen der "unkalkulierbaren" Ampelpolitik zu hoch.

Zudem werde in Deutschland trotz einer Rekordzahl an sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen zu wenig gearbeitet. Kretschmer will die Arbeitnehmergründe für Teilzeitarbeit zurückfahren. "Wir geben ein anderes Signal: Hier muss jeder 40 Stunden arbeiten", schlägt der Christdemokrat vor. Frühere Generationen hätten sich dabei auch "keinen Zacken aus der Krone gebrochen". Vor allem Besserverdiener und öffentlich Bedienstete arbeiteten Teilzeit, sagt Kretschmer. Das sei ungerecht und passe nicht zum Fachkräftemangel in Deutschland.

Zumindest beim Thema Bürokratie kommen die beiden grundsätzlich zusammen: "In der Summe haben wir uns verlaufen", sagt Habeck, auch wenn jede Vorschrift, Genehmigungsauflage und so weiter für sich genommen begründet sein möge. Der Vizekanzler warnt aber Kretschmer in dieser Frage vor einem Schwarze-Peter-Spiel und predigt stattdessen pragmatisches Kleinklein, um den Auflagenwust systematisch zurückzufahren. Der Kern des Problems ist aus Habecks Sicht ein anderer: der fehlende Verschuldungsspielraum der Bundesregierung.

Habeck gibt neue Schuldenregelung nicht auf

Der Bundeswirtschaftsminister ist frisch zurück von seiner USA-Reise. Er steht erkennbar unter dem Eindruck der hunderte Milliarden Dollar schweren Subventionen des Inflation Reduction Acts, mit dem Washington massiv Unternehmen aus Europa über den Atlantik lockt. Dies geschieht in Form simpler Steuerabschreibungen, während alle Subventionsprogramme von Bund und EU elendig kompliziert und für die antragstellenden Unternehmen schwer kalkulierbar sind. Wegen der auch für Kommunen und Bundesländer geltenden Schuldenbremse seien vergleichbare Abschreibungsprogramme nach US-Vorbild gar nicht machbar in Deutschland, sagt Habeck, weil Länder und Kommunen nicht vorab kalkulieren könnten, in welchem Umfang Unternehmen von einer solchen Regelung Gebrauch machen.

Habeck wirbt dafür, die Verschuldung doch wenigstens über längere Zeiträume als strikt nach Kalenderjahr zu berechnen oder die Schuldengrenze zumindest um ein oder zwei Prozentpunkte anzuheben. "Ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind 140 Milliarden Euro", rechnet Habeck vor. Niemand könne ihm erklären, dass bei einem Prozentpunkt mehr Verschuldung "die Verschuldungsrate von Deutschland explodiert". Niemanden interessiere es, ob Deutschland zu 63 oder 65 Prozent seines BIP verschuldet sei. "Aber was könnten wir damit machen, wenn wir uns ein bisschen mehr pragmatische Flexibilität erlauben würden?", fragt er in beinahe träumerischem Ton. Er kündigt an, die Debatte noch einmal verschärft führen zu wollen, trotz etwaiger Absagen von FDP, CDU und CSU.

Kretschmer lobt Demonstrationen gegen AfD

Die Hausveranstaltung des Bundeswirtschaftsministeriums ist kein journalistisch moderiertes Streitforum. Die Teilnehmer zerlegen sich nicht auf offener Bühne. Kretschmer geht einfach über das Thema Reform der Schuldenbremse hinweg. Als die beiden vier Wochen zuvor auf der Mitteldeutschen Handwerksmesse in Leipzig miteinander diskutierten, klang er noch anders: Die Ampel wolle "alles wegsubventionieren mit irgendwelchen Schulden", statt die deutsche Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig zu machen, klagte er.

Warum also diese Mäßigung? Weil Kretschmer dieses Mal in der Höhle des Löwen zu Gast ist, in Leipzig es aber noch andersherum war? Weil Kretschmer in Berlin nicht um Wählerstimmen kämpft, seine Wortmeldungen aus Dresden hier aber immer wieder erstaunen? Weil auch er in der Sache eine gute Arbeitsbeziehung zum Bundeswirtschaftsminister braucht, der schließlich Milliardensubvention für die Ansiedlung einer Mikrochipfabrik in Dresden lockergemacht hat? Von alledem wohl etwas, aber eben auch das: "Wir haben bei vielen Punkten möglicherweise eine andere Meinung. Was wir aber miteinander, glaube ich, vorleben müssen, ist, dass man das anständig miteinander austrägt."

Kretschmer kämpft in Sachsen gegen nicht weniger als die erste AfD-Landesregierung. Bei 35 Prozent steht die Partei in den Umfragen, bei 30 Prozent Kretschmers CDU. Das Bündnis Sahra Wagenknecht liegt in der Infratest-Umfrage von Ende Januar mit 8 Prozent vor SPD, Grünen, Linken und FDP. Kommt keiner der vier ins Landesparlament, könnte die AfD alleine regieren. Kretschmer sagt über das Rassismusproblem in seinem Bundesland und anderswo: "Dieses Bösartige gegen Menschen von außen, dem müssen wir mit aller Kraft entgegentreten." Die Demonstrationen gegen die AfD seien "sehr, sehr wichtig für die politische Hygiene in unserem Land" gewesen.

Kretschmer warnt vor Freund-Feind-Denken

Kretschmer weiß aus der täglichen Auseinandersetzung mit der AfD und ihren Anhängern in Sachsen um die Gefährlichkeit der Partei. "Das Wesen der Bundesrepublik Deutschland ist bis zum Auftauchen der AfD, dass politische Parteien keine Feinde waren und sind, sondern dass man sich immer zusammensetzen konnte", sagt Kretschmer. CDU und Grüne seien Gegner oder Konkurrenten, aber keine Feinde. "Leute, die andere zu Feinden erklären, die wollen es nicht gut mit diesem Land." Wie Kretschmer diese Botschaft in Sachsen verbreitet, in unzähligen Bürgergesprächen mal klare Kante, mal irritierend viel Verständnis für die Haltung der Menschen zeigt, war schon Thema unzähliger medialer Betrachtungen - und wird es im Landtagswahlkampf wieder werden.

Habeck und Kretschmer sind sich einig, dass die demokratischen Parteien den Aufstieg der AfD verhindern müssten; allerdings nicht in der Frage des Wie. Politik müsse den Rechtspopulisten den Nährboden entziehen, indem sie die Themen der Menschen ernst nehme und löse, sagt Kretschmer. Er zählt die Migration, hohe Energiekosten oder auch die Agrardieselbesteuerung für Landwirte als Beispiele auf.

Habeck widerspricht entschieden: "Das Wichtigste ist, dass man nicht glaubt, der Rechtspopulismus speise sich aus der Summe lauter kleiner Probleme." Rechtspopulisten suchten immer weiter nach Aufregerthemen und plusterten diese auf, bis die anderen Parteien sich über deren Lösung öffentlich zerlegten. Der Rechtspopulismus versuche "die Demokratie in eine Unlösbarkeitsfalle hineinzuführen und dann zu beweisen 'Guck mal an, die liberale Demokratie funktioniert nicht!'". Zu solch einer Spaltung dürften sich die demokratischen Parteien nicht verführen lassen.

Wenn Habeck sich vorstellt, Kretschmer zu sein

Er selbst ärgere sich "sehr häufig" über Äußerungen, die er manchmal von Kretschmer lese, bekennt Habeck. "Und ich frage mich dann jedes Mal: Ärgerst du dich eigentlich zurecht? Wie würdest du eigentlich reden, wenn du Ministerpräsident in Sachsen wärst?" Deshalb sei er auch dankbar, dass Kretschmer zu der Diskussion ins Bundeswirtschaftsministerium gekommen sei. Zuvor hat sich der Eingeladene schon wiederholt für die Gelegenheit zum sachlichen Austausch bedankt. Das sei mit anderen Vertretern der Bundesregierung so nicht möglich.

So kommen die beiden in den politischen Sachthemen zwar kaum voran an diesem Abend, versichern aber einander, von der Notwendigkeit eines anständigen Umgangs überzeugt zu sein. Dass das überhaupt notwendig ist, mag zwar auch Bände sprechen über den Zustand der Bundesrepublik im Frühjahr 2024. Wenn aber davon etwas hängen bleiben sollte in den absehbar aufgeregten Wahlkampfmonaten im Osten, wäre wohl auch das schon ein Gewinn.

Quelle: ntv.de

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