Panorama

Am Ende ein Demokratietraining "Für gute Nachbarschaft reicht friedliche Koexistenz"

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Während der Corona-Einschränkungen lernten viele ihre Nachbarn kennen und schätzen.

Während der Corona-Einschränkungen lernten viele ihre Nachbarn kennen und schätzen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Man trifft sie im Hausflur oder auf der Straße, manche kennt man seit Jahren vom Sehen und doch bleiben Nachbarn immer ein wenig fremd. Trotzdem gehören sie zum sozialen Netzwerk eines jeden dazu. Olaf Schnur vom VHW Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung hat gerade ein Forschungsprojekt begleitet, in dem deutlich wird: Es braucht nicht viel für eine gute Nachbarschaft.

ntv.de: Was erwarten Menschen von ihren Nachbarn? Sollen die nur Pakete annehmen und vielleicht mal mit Zutaten aushelfen? Oder sind die Erwartungen komplexer?

Olaf Schnur: Die Erwartungen sind sicherlich komplexer, das hängt sehr stark von den Personen ab, die Sie fragen. Es ist ein Unterschied, ob ich jetzt zum Beispiel ein älterer Mensch bin, mit Hilfebedarf, der möglicherweise darauf angewiesen ist, dass Nachbarn ihm hin und wieder mal zur Hand gehen. Oder ob Sie eher an Kreative denken, die in der Nachbarschaft Inspiration suchen oder gute Orte im Quartier, an denen sie sich treffen und arbeiten können. Die würden sicher entsprechend unterschiedliche Erwartungen an die Nachbarschaft formulieren. Und gleichzeitig ist es dann auch wieder innerhalb dieser Gruppen unterschiedlich, weil mancher vielleicht lieber seine Ruhe haben möchte. Und andere wünschen sich eben viel intensivere Nachbarschaften.

Wird Nachbarschaft zu sehr idealisiert?

Ich glaube nicht, aber wir haben einen stereotypen Diskurs in beide Richtungen. Wir haben diese Erzählungen über Nachbarschaftskonflikte, die ganze Maschendrahtzaun-Thematik, die etwas klischeehaft ist. Und gleichzeitig betrachten viele die Nachbarschaft auch eher durch eine rosarote Brille. Die Realität liegt meist irgendwo dazwischen. Viele denken, dass man große soziale Nähe oder persönliche Beziehungen braucht, um gute Nachbarschaft zu leben, das ist aber nicht zwangsläufig nötig. Es reicht manchmal auch das Gefühl friedlicher Koexistenz, dass ich weiß, welche Leute hier wohnen, dass diese Menschen eine Vertrautheit haben mit meinem Wohnumfeld. Das Beiläufige, das Grüßen, das Reden über das Wetter sind wichtiger, als vielfach angenommen wird, und die sozialen Netzwerke verändern sich. Die Gesellschaft hat sich tiefgreifend gewandelt und das prägt eben heute auch die Nachbarschaft.

Woran würden Sie diese Veränderung festmachen?

Anders als vor ein paar Jahrzehnten beispielsweise in Arbeiterquartieren haben wir in der Regel nicht mehr so feste, enge Nachbarbeziehungen. Heute sind sie oftmals eher fluid. Es gibt ein lockeres Kommen und Gehen in den Nachbarschaften. Sie sind von globaler Vernetzung geprägt und bilden gleichzeitig eine Synapse ins Lokale. Das prägt heute die Nachbarschaften zumindest teilweise in großstädtischen Bereichen sehr. Es gibt Seiten der Globalisierung, die Ängste auslösen. In der Soziologie spricht man auch von Entankerung und Entbettung, von Beschleunigung und fehlender Resonanz. Da kommen Quartier und Nachbarschaft als Gegenpol ins Spiel, wo ich mich praktisch erden und hier wieder andocken kann. Deshalb wird Nachbarschaftlichkeit auch nicht unwichtiger oder schwächer, nur weil wir immer weiter gestreute Netzwerke haben.

Welche Rolle spielen in unserem Nachbarschaftsgefühl klassische Höhepunkte wie Straßenfeste oder Hofflohmärkte?

Die spielen eine große Rolle, weil Nachbarschaften natürlich auch Orte und Anlässe der Begegnung brauchen. Diese temporären oder episodischen Events sind dafür eine Möglichkeit. Aber es gibt auch andere Gelegenheiten. Wenn Leute Baumscheiben pflegen, schaffen sie auch kleine Begegnungsorte, an denen beiläufige Kontakte entstehen können. Das ist alles wichtig für Nachbarschaften.

Wie wirkt es sich auf die Lebensqualität aus, wenn man seine Nachbarschaft als gut empfindet?

Dieses Zugehörigkeitsgefühl, das manchmal schon über kleine Dinge entsteht, ist ganz wichtig für das psychische Wohlbefinden. Man kann vielleicht noch einen Schritt weitergehen. Für Menschen, die allein leben und vielleicht auch keine Verwandten haben, ist es fast schon lebenswichtig, Kontakte zum Beispiel in der Nachbarschaft zu haben, um eben nicht sozial isoliert zu sein. Die Wissenschaft hat festgestellt, dass soziale Isolation ein extrem hoher Krankheitsindikator ist, ähnlich hoch wie Adipositas zum Beispiel. Also das Thema hat richtige gesundheitliche Aspekte. Um hier vorzusorgen, muss man die Latte gar nicht so hoch hängen. Es reicht häufig schon ein gutes, friedliches Miteinander im Quartier als Basis aus.

Was kann ich selbst tun, um ein besserer Nachbar, eine bessere Nachbarin zu sein?

Die erste Sache ist tatsächlich das Grüßen und Hallo sagen. Das ist sehr niedrigschwellig und das kann ich auf jeden Fall immer leisten. Das zweite wäre, wenn ich in der Nachbarschaft Menschen sehe, die ganz offensichtlich Hilfe brauchen, dass ich sie vielleicht einfach mal anspreche und Hilfe anbiete. Das kann ganz beiläufig und wenig sein. Man muss sich da nicht gleich stark involvieren. Einfach ein bisschen aufeinander achten, ohne dass gleich soziale Kontrolle daraus entsteht. Das dritte ist, auch von anderen nicht zu viel zu erwarten. Wichtig ist dieses Gefühl: leben und leben lassen, dass man sich nicht zu eng auf die Pelle rückt. Niemand muss in der Nachbarschaft irgendetwas tun. Sich lieber langsamer vorantasten und andere so respektieren und akzeptieren, wie sie sind. Das ist wichtig, denn dann ist man auch ein guter Nachbar.

Sie sind bei ihrer Forschung auf eine Metaebene gegangen und haben gefragt, inwieweit Nachbarschaft demokratiefördernd ist. Was haben Sie herausgefunden?

Wir beziehen uns in unseren Forschungen meist auf bestimmte Theorien oder Vordenker. Einer davon ist in letzter Zeit sehr angesagt, obwohl er schon lange nicht mehr unter uns ist. Das ist John Dewey, ein Philosoph, der in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts demokratische Alltagskultur beschrieben hat. Er sagt, dass Demokratie dem Alltagshandeln entspringt und dass das eben häufig in nachbarschaftlichen Kontexten passiert. Wir haben im nachbarschaftlichen Alltag viele Möglichkeiten oder Situationen, die im Kleinen etwas mit Demokratielernen und politischem Handeln zu tun haben. Angenommen, es gibt einen kleinen Nachbarschaftskonflikt, beispielsweise um die Mülltrennung. Dann kommt es zum Gespräch und man ist sofort in einer Aushandlungssituation. Das ist eigentlich der Kernaspekt von gelebter Demokratie: mit anderen etwas auszuhandeln und gemeinsam zu einer Lösung zu kommen. Oder zunächst nicht zu einer Lösung zu kommen, auch das ist eine demokratische Erfahrung. Aber oft kann man etwas erreichen, dann ist es positiv und demokratische Kultur braucht eben solche positiven Erfahrungen. Weil man in der Nachbarschaft Möglichkeiten zur Mitgestaltung hat, meinetwegen bei einem Nachbarschaftsfest, erfährt man hier so etwas wie Selbstwirksamkeit. Wenn man das weiterdenkt, wird es möglicherweise wirklich politisch, wenn das zuständige Ordnungsamt das Fest nicht erlauben will, weil irgendetwas dagegenspricht. Dann muss man sich an entsprechende Ämter und politische Institutionen wenden. Man kennt diesen Aktivierungseffekt aus dem Community Organizing, das aus den USA kommt und hier in Deutschland auch angewandt wird.

Worum geht es dabei?

Dabei wird in benachteiligten Quartieren versucht, Menschen zu befähigen, die vielleicht wegen ihrer Sprachkenntnisse oder Bildung nicht so beteiligt sind, die Stimme zu erheben und auch ihre Bedürfnisse einzufordern, beispielsweise gegenüber Lokalpolitikern. Bis zur gesamtgesellschaftlichen Verfasstheit und formaleren Dimensionen von Demokratie ist es ein Stück Weg. Aber es fängt irgendwo dort an und wenn wir viele kleine gute Initiativen und subjektive Erfahrungen haben, dann wirkt das am Ende auch auf das gesamte System durch.

Sie haben zu verschiedenen Aspekten von Nachbarschaft geforscht, welches Ergebnis hat Sie überrascht?

Dass Digitalisierung inzwischen eine so große Rolle spielt. Digitale Medien ermöglichen es, das Bedürfnis nach Gemeinschaft zu erfüllen, und zwar praktisch auf Knopfdruck, und gleichzeitig die Individualität aufrechtzuerhalten. Wir haben festgestellt, dass es Nachbarschaftsinitiativen gibt, die sich allein deswegen zusammengefunden haben, weil es Plattformen gibt, auf denen sie sich vernetzen konnten. Das können lokale Facebookgruppen sein oder Apps, die dem nachbarschaftlichen Austausch dienen. Hier haben digitale Plattformen eine viel größere Reichweite und eine viel bessere soziale Durchdringung. Gleichzeitig sehen wir, dass sich Nachbarschaften verändern. Früher kannten sich die Leute nur vom Sehen in der Nachbarschaft. Und wenn sie nicht so eng miteinander waren, hat man eben mal übers Wetter geredet oder sich ein Paket rübergebracht. Sonst wusste man nicht viel voneinander. Heutzutage kann man in sozialen Medien gucken und findet so überhaupt erst Menschen in der Nähe. Oder erfährt, was der Nachbar arbeitet oder welche politischen Meinungen er teilt. Das kann dann im nachbarschaftlichen Miteinander Auswirkungen haben oder dazu führen, dass sich Leute zusammentun, um etwas gemeinsam zu initiieren oder zu gestalten. Das ist eine neue Qualität, die durch diese digitalen Tools in die Nachbarschaften hineinkommt.

Mit Olaf Schnur sprach Solveig Bach

Quelle: ntv.de

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