Panorama

Aus der Schmoll-Ecke Deutschland - ein identitätspolitisches Sommermärchen

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Jonathan Tah und Antonio Rüdiger sind das unumstrittene Chef-Duo in der deutschen Innenverteidigung, auch "Verteidigungsmonster" genannt. Da kann Robert Andrich nur noch gucken.

Jonathan Tah und Antonio Rüdiger sind das unumstrittene Chef-Duo in der deutschen Innenverteidigung, auch "Verteidigungsmonster" genannt. Da kann Robert Andrich nur noch gucken.

(Foto: dpa)

Unterschiede? Gibt es nicht in der Nationalmannschaft! Denn: "Wir verfolgen alle ein Ziel." Leicht gesagt, wenn man als Millionär in einer von Bürgergeldempfängern freien Blase in München-Bogenhausen und nicht in Berlin-Neukölln lebt.

Der Mensch soll oder muss Prioritäten setzen, heißt es. So tat ich es, als Deutschland sich aufmachte, Ungarn, die einstige Weltmacht an der Seite Österreichs, vernichtend zu schlagen. Ich war während der 90 Minuten joggen, weil ich den Grunewald an den Ufern von Schlachtensee und Krumme Lanke einmal in Einsamkeit erleben, egoistischer formuliert: für mich allein haben wollte. Was beinahe gelang, wären da nicht eine Dame mit zwei großen Hunden, ein Radfahrer und ein anderer Waldläufer gewesen, die wohl dasselbe im Sinn hatten wie ich.

Selten ist es so leer am Grunewaldsee in Berlin.

Selten ist es so leer am Grunewaldsee in Berlin.

(Foto: imago images/Jürgen Ritter)

So kannte ich das Ergebnis des oben erwähnten Ringens um die fußballerische Vorherrschaft in Europa nicht, als ich nach Hause fuhr, und versuchte, es anhand der Zahl der Deutschland-Fahnen und -Fähnchen, von Geräuschen und Gesichtern auszumachen.

Deutschland-Fähnlein nach dem Wind hängen

Doch nur ein einziges Auto führte Schwarz-Rot-Gold mit sich, niemand hupte, und die Kneipen, die ich passierte, waren offenbar nur von Ungarn oder Desinteressierten bevölkert. Die Gäste schauten weder glücklich noch zuversichtlich in die Welt, sondern verzagt und verdrossen, was so gar nicht zum "Hauch von Sommermärchen" passen wollte, von dem überall zu lesen war und ist.

Doch doch, die Freude setzt sich langsam durch!!

Doch doch, die Freude setzt sich langsam durch!!

(Foto: dpa)

Tatsächlich war mein Gefühl 2006 ein anderes, ich habe Berlin damals weitaus fröhlicher und entspannter erlebt. Der Krampf ist zurück, auch die Diskussionen um gesunden und ungesunden Patriotismus. Darf man sein Deutschland-Fähnlein in den Wind hängen? Na klar. Oder besser doch nicht. Mensch, wir sind doch alle Deutsche. Ob kickender Multimillionär in München-Bogenhausen mit weißer Hautfarbe oder ein junger Moslem in Berlin-Neukölln, dessen Eltern von Bürgergeld leben - wir sind alle eine Nation. Oder nicht? Deutschland. Ein identitätspolitisches Sommermärchen.

"Diese Mannschaft ist wirklich großartig. Stellt euch kurz vor, da wären nur weiße deutsche Spieler", frohlockte Katrin Göring-Eckardt, die Bundestagsvizepräsidentin, Mitglied bei den Grünen, auf X. Keine Ahnung, warum die Frau nicht auf die hier absolut überflüssige Einteilung der Menschheit nach Hautfarben verzichten und einfach mal nur schreiben konnte: "Gut gemacht, Jungs. Holt euch den Titel!" Dann hätte sie nicht der oberschlaue FDP-Mensch Wolfgang Kubicki auffordern müssen, die Botschaft zu löschen, was Frau Göring-Eckardt dann auch brav tat, natürlich - das gehört zum Ritual des Polit-Betriebs - versehen mit einer Entschuldigung: "Tut mir leid, wie ich formuliert habe. Mich hat aufgeregt, dass 21% der Deutschen es besser fänden, wenn mehr 'Weiße' in der Nationalmannschaft wären. Ich bin stolz auf diese Mannschaft und wünsche mir, dass wir auch die 21% noch überzeugen."

Wir sind Müller. Oder was?

Rassisten und Alltagsrassisten von der Vielfalt der modernen Welt durch Imagination "nur weißer deutscher Spieler" zu überzeugen, ist ein kühnes Unterfangen, da es dem Wunschbild eines Neonazis entsprechen sollte. Zu erwarten ist kaum, dass der denkt: Oh, ah, ja, Migranten gibt es nicht nur an der Kasse bei Aldi, in Krankenhäusern und bei DHL, sondern auch in der Fußball-Nationalmannschaft. Also wenn das so ist, dann …? Was dann? Sinken die 21 auf 0,5 Prozent und die Ergebnisse der AfD gleich mit? (Kein Wunder, dass Schmierfinken wie ich Akteuren der Politik maximal noch mittelmäßige Intelligenz zugestehen.)

Die Bundestagsvizepräsidentin, die mir übrigens immer noch nicht auf meine Bewerbung zum Bundestagspoeten geantwortet hat, zitierte unter ihrer Entschuldigung den Nationalspieler Jonathan Tah: "Wir sind Müller. Aber wir sind auch Tah und Gündoğan. Und wir verfolgen alle ein Ziel." Leicht gesagt, wenn man als Millionär in einer von Bürgergeldempfängern freien Blase lebt, umgeben von anderen Millionären, die sich alle zwei Jahre zur EM und WM mit "One love"- oder "Two Love"- oder "Lots of Love"-Binden positionieren und sich ansonsten bis auf ganz ganz wenige Ausnahmen nicht zu gesellschaftspolitischen Themen äußern, damit der Verein keinen unnötigen Ärger hat - denn Fußball hat Vorrang.

"Wir verfolgen alle ein Ziel." Ich vermute, Herr Tah meinte, Europameister zu werden. Oder die Welt besser zu machen. Oder mit Fußball noch mehr Geld zu verdienen. Nur kein Neid, Herr Kolumnist! Lustigerweise sind es Frau Göring-Eckardt und ihre "One Love"-Grünen, die "Reiche", "Vermögende" und "Einkommensmillionäre" stärker besteuern wollen. Betroffen wären all die tapferen Kicker, die sich gerade durch die Hammergruppe mit Hammergegnern wie Schottland und Ungarn ins Achtelfinale rackern, um Deutschlands Ruhm zu mehren.

Spielermaterial und Spielerfrauen

Das könnte Frau Göring-Eckardt doch auf X fordern: "Diese Mannschaft ist wirklich großartig. Stellt euch kurz vor, die Einkommensmillionäre würden nun auch mehr Steuern bezahlen." Oder sie würde sich über die Sprache im Fußball aufregen - die Grünen achten doch stets auf die richtige Wortwahl. "Wenn du so ein Spielermaterial wie die Engländer hast", erklärte ein "Experte" im TV. Menschen als Material. Das klingt wie Sklavenhandel oder Krieg. Postkolonialismus ist doch ein Spezialgebiet der Grünen. Auch der Feminismus. Da gebe es ebenfalls einiges zu sagen, etwa zu dem Stuss, den Medien aller Art über die Lebensgefährtinnen der Fußballer verbreiten.

Köstlich, dass der Begriff "Spielerfrauen" nicht totzukriegen ist, der jene Frauen zu bloßen Anhängseln der Männer degradiert. Die Berichterstattung über "Spielerfrauen" hört sich schwer nach 19. Jahrhundert an. "Sie sind die starken Stützen hinter den erfolgreichen Männern", vernahm ich. Im Übrigen sei es an der Zeit "für ein paar neue auf dem Spielerfrauenfeld". What?! Einige Frauen "halten sich lieber dezent im Hintergrund", was die Frage aufwirft, wie man sich im Hintergrund bewegen könnte, ohne dezent zu sein. Indiz für die These: Irgendeine "Liebste" irgendeines Fußballers "hat nicht mal einen öffentlichen Instagram-Account". Ist das jetzt mutig oder tragisch oder scheißegal?

Das deutsche Klima

Oh je. Deutschland. Ein intellektuelles Wintermärchen. An dem ich mich alle zwei Wochen an dieser Stelle beteilige. Doch will ich betonen: Die freie Luft des Ortes wehte in manche meiner Kolumnen weit schärfer hinein, als mir eigentlich lieb war. Ich unterließ nicht, schon gleich zu mildern und auszuscheiden, was mit dem deutschen Klima unverträglich schien. Bevor mich jemand des Vaterlandsverrats zeiht, verweise ich abermals in Anlehnung an Heinrich Heine, der das Pech hatte, als Jude von Nationalisten und als Patriot von Progressiven verachtet worden zu sein: "Pflanzt die schwarz-rot-goldene Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des freien Menschtums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben."

Beruhigt euch, ich liebe das Vaterland ebenso sehr wie ihr. Und stellt euch kurz vor, es gäbe mich nicht mehr. Die Welt wäre noch einfältiger.

Quelle: ntv.de

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