Epidemiologe im Interview "Sollten keine zu frühe Lockerung riskieren"
11.02.2022, 14:31 Uhr
Schon einmal haben sich zu frühe Lockerungen als Fehler erwiesen, sagt Ulrichs.
(Foto: picture alliance / SvenSimon)
Schon einmal haben sich Lockerungen der Corona-Maßnahmen als zu früh erwiesen. Deswegen rät Epidemiologe Ulrichs bei ntv auch nach dem Überschreiten des Höhepunkts der Omikron-Welle die Maßnahmen noch eine Weile beizubehalten. Kritisch sieht er zudem die Ankündigung von NRW, die Fälle künftig anders zu melden.
ntv: Wie hoch würden Sie momentan eine Dunkelziffer der Neuinfektionen einschätzen?
Timo Ulrichs: Eine Dunkelziffer hatten wir ja schon immer, seit dem Zeitpunkt, als wir angefangen haben zu messen bei der ersten Welle. Die ist mehr oder weniger gleich, weil wir die Bedingungen des Messens gleich gehalten haben. Das heißt aber auch, dass jetzt sehr, sehr viele Menschen nicht erfasst werden. Der Anteil mag gleich bleiben, aber das kann sich noch ändern, wenn die Testkapazitäten eben erreicht sind und wir dann fälschlicherweise zu niedrige Werte messen.
NRW denkt jetzt darüber nach, keine genauen Werte zu messen, sondern Stichproben zu erheben. Geben wir uns damit der Omikron-Welle geschlagen?
Wir sind immer noch im aufsteigenden Ast der Omikron-Welle, auch wenn sich die Zunahme etwas verlangsamt. Allerdings, wenn wir es jetzt genauso machen, wie NRW es plant, dann würden wir in der Tat eine ganz wichtige Erkenntnis aus der Hand geben, nämlich wie schnell diese Neuinfiziertenzahlen zunehmen und ob wir möglicherweise den Peak schon erreicht haben. Das heißt, damit hätten wir fälschlicherweise zu niedrige Zahlen. Auch bei Erreichen der Testkapazitäten ist das eine Gefahr. Wenn wir aber versuchen, die Bedingungen gleich zu halten, dann können wir sehr viel eher erkennen, wann dieser Peak erreicht sein wird und danach unsere Lockerungsideen entsprechend planen.
Füße still halten, was mögliche Lockerungen jetzt schon angeht, rät Epidemiologe Ulrichs.
(Foto: ntv)
Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat angekündigt, bei der kommenden Ministerpräsidentenkonferenz über Lockerungen zu sprechen, hat aber auch davor gewarnt, damit zu früh loszulegen. Dasselbe sagt auch der Ärztepräsident. Wie schätzen Sie das ein?
Da müssen wir nur mal zurückgucken, auf den absteigenden Ast der zweiten Welle. Damals haben wir auch fleißig über Lockerungen nachgedacht und diese Stück für Stück umgesetzt, um dann festzustellen, die Werte gehen gar nicht weiter runter, sondern wir sind dann - auch aus anderen Gründen - in eine dritte Welle reingegangen. Das sollten wir dieses Mal nicht riskieren. Auch wenn andere Länder uns das vorgemacht haben, dass man ziemlich schnell auf niedrige Werte kommt, und wir zudem auch in den Frühling gehen. Trotzdem sollte man auch nach Überschreiten des Peaks die Maßnahmen noch eine Weile beibehalten und vorsichtig lockern.
Die Omikron-Variante wurde als die mildere Variante angepriesen. Jetzt ist es so, dass die Zahl der Kinder, die auf den Intensivstationen liegen, weiter steigt. Müssen wir jetzt doch die Kinder mehr schützen?
Es war zu erwarten, dass in allen Altersgruppen Covid-Fälle auftreten. Welche weiteren Bedingungen dazu geführt haben, dass auch unter den Kindern schwere Verläufe verzeichnet sind, das muss man bei dem Einzelfall überprüfen. Letztlich ist das eine Situation, die wir so nicht wollten; daher die Schutzmaßnahmen bei den Erwachsenen, um die Schulen und Kitas drum herum. Nun ist die Omikron-Variante sehr ansteckungsfähig und verbreitet sich deswegen auch in den jüngeren Altersgruppen stark. Da kann man jetzt wenig machen, außer die Maßnahmen wirklich umsetzen. Und auch die Füße still halten, was mögliche Lockerungen jetzt schon angeht.
Die USA möchte jetzt damit beginnen, auch die unter Fünfjährigen zu impfen. Wie wichtig ist denn diese Altersgruppe?
Es wurde immer gesagt, die hätten nur ein ganz geringes Risiko für einen Covid-19-Verlauf. Das ist auch grundsätzlich richtig. Wenn man gleichzeitig sieht, wie groß die Durchseuchung ist, hat man allein aufgrund der schieren Zahl von Infizierten doch einzelne schwere Fälle, die sich aufsummieren können. Deswegen ist es sinnvoll, umfassend zu impfen und in die Altersgruppen reinzugehen, auch mit Blick auf den kommenden Herbst und Winter dieses Jahres. Da könnte andernfalls noch mal eine Welle drohen, die dann die höher Risikobelasteten, also die über 60-Jährigen, stark treffen könnte, wenn sie noch nicht geimpft sind. Wir müssen uns ohnehin Gedanken machen, wie wir mit der Corona-Impfung mittel- bis langfristig umgehen. Wir müssen sehen, dass wir mit dem Virus leben können, eine Grundimmunität in der Bevölkerung haben und auch aufrechterhalten. Das muss die STIKO festgelegt, zu welchem Zeitpunkt im Lebensverlauf eine Impfung sinnvoll ist. Das kann auch schon recht früh sein, so wie es in den USA ja gerade praktiziert wird.
Der Impfstoff Novovax soll bei Kindern und Jugendlichen eine Wirksamkeit von 80 Prozent haben. Das wurde aber bisher nur bei Delta so festgestellt. Ist Novovax trotzdem ein Hoffnungsträger?
Ja, es ist ja ein konventionell hergestellter Impfstoff, also ein Protein- oder Tot-Impfstoff. Die Wirkung ist allerdings nicht so gut und umfassend wie die mRNA-basierten Impfstoffe. Ihn jetzt einzusetzen, ist verbunden mit der Hoffnung, die Impfskeptiker zu erreichen. Es spricht auch nichts dagegen, ihn zu kombinieren, zum Beispiel als dritte oder vierte Impfung mit zuvor stattgehabten mRNA-basierten Impfstoffen. Das ist gut und sinnvoll und richtig. Man muss sehen, wie sich diese Schutzwirkung dann in der Praxis herausstellt. Letztendlich ist es der Schutz vor Infektionen, der bei den Jüngeren die wichtigere Rolle spielt. Schutz vor Erkrankung ist das, was wir auf jeden Fall erreichen wollen. Und da sind diese Impfstoffe eigentlich alle sehr gut.
Mit Timo Ulrichs sprach Vivian Bahlmann
Quelle: ntv.de