Panorama

Identität im Alter Warum wir alle gebraucht werden wollen

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Der ehemalige Trigema-Chef Wolfgang Grupp ist mit seinem Suizidversuch an die Öffentlichkeit gegangen.

Der ehemalige Trigema-Chef Wolfgang Grupp ist mit seinem Suizidversuch an die Öffentlichkeit gegangen.

(Foto: picture alliance/dpa)

"Da macht man sich auch Gedanken darüber, ob man überhaupt noch gebraucht wird." Was Ex-Trigema-Chef Wolfgang Grupp kurz vor seinem Suizidversuch beschäftigt, betrifft viele ältere Menschen. Ist die eigene Identität ein Leben lang vor allem durch den Beruf definiert, ist das Loch, in das man fällt, enorm.

Nicht mehr gebraucht zu werden - das beschäftigt nicht nur Eltern von Kindern, die langsam erwachsen werden, sondern auch ältere Menschen im Übergang vom Berufsleben in die Rente. Das zeigte erst kürzlich der Suizidversuch des ehemaligen Trigema-Chefs Wolfgang Grupp. In einem Brief an seine Belegschaft erklärte der 83-Jährige, dass er an Altersdepression leide. Er mache sich Gedanken darüber, ob er überhaupt noch gebraucht werde. Vor allem für Menschen in hohen beruflichen Positionen ist der plötzliche Eintritt in den Ruhestand ein scharfer Schnitt, der die Frage nach der eigenen Identität auf den Plan ruft.

"Viele Menschen identifizieren sich stark mit ihrer beruflichen Rolle", erklärt Familienberaterin Ruth Marquardt ntv.de. "Der Renteneintritt bedeutet oft den Verlust dieser Identität, was zu einer emotionalen Belastung führen kann." Besonders Männer haben es im Übergang zum Ruhestand schwer, so die Expertin. "Während sich viele Männer über ihre Arbeit identifizieren, sind die meisten Frauen für die Pflege des sozialen Umfelds zuständig. Das macht sich gerade beim Renteneintritt besonders stark bemerkbar."

Immer wieder erlebt Marquardt zudem Männer, die keine eigenen Freunde haben oder bei denen diese zu weit weg wohnen. Aufgrund der beruflichen Belastung haben sie die Freundschaften oft jahrelang nicht gepflegt. Fällt dann auch noch das soziale Umfeld im Beruf weg, steht man plötzlich isoliert da. Oft sind die eigenen Kinder dann auch schon aus dem Haus und Enkelkinder vielleicht nicht in Sicht. Was bleibt, sind die Fragen: Wer bin ich jetzt noch, wenn Karriere und Kindererziehung "erledigt" sind? Und wie organisiere ich künftig mein Leben?

Die Frage nach der eigenen Identität

Kontakttelefon Silbernetz

Das Kontakttelefon Silbernetz ist täglich von 8 bis 22 Uhr unter der Telefonnummer 0800 4708090 kostenlos zu erreichen.

Wie sehr diese Fragen belasten können, erlebt auch Elke Schilling täglich in ihrer Arbeit für den Verein Silbernetz. Bundesweit bietet die Gründerin des Vereins mit dem Silbertelefon Menschen ab 60 Jahren täglich ein offenes Ohr. "Einfach mal reden" ist hier das Motto, das von vielen älteren Menschen dankend angenommen wird. Denn was viele hier beschäftigt, ist die Einsamkeit, die sich ohne richtige Aufgabe, durch gesundheitliche Einschränkung und ein im Alter immer kleiner werdendes Umfeld einschleicht - und im schlimmsten Fall von Altersdepression bis hin zu Suizidgedanken führen kann.

Auch in den Gesprächen am Silbertelefon gehe es viel um das Thema Gebrauchtwerden im Alter, sagt Schilling im Gespräch mit ntv.de. Allerdings: "Es ist weniger die Sorge als die Feststellung, nicht mehr gebraucht zu werden." Wie gravierend das Problem der Kontaktarmut im Alter sei, sehe sie vor allem an Aussagen wie: "Ich hab keine Kontakte mehr und ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich noch leben soll. Kein Mensch braucht mich und ich habe auch niemanden, an den ich mich wenden könnte."

Hinzu komme, dass auch bei ihren Anrufern viele ihren Lebenssinn ihr Leben lang durch ihren Beruf und ihr Einkommen definiert haben. Falle die Erwerbstätigkeit weg, verlieren manche diesen Lebenssinn. Dass man sich den Ruhestand und das Geld, das man in der Rente bekomme, auch durch jahrzehntelange Beitragszahlung verdient habe, machen sich viele nicht bewusst - und das werde auch in der Gesellschaft nicht entsprechend gewürdigt.

"Man wird eigentlich nicht mehr als aktives Mitglied der Gesellschaft gesehen", sagt Schilling. Natürlich könne man auch als Rentner ein Ehrenamt ausführen und das sei auch sehr gefragt, wirklich wertgeschätzt werde aber auch das nicht in der Gesellschaft. Es werde im Gegenteil als Selbstverständlichkeit angesehen. "Und damit ist die Sichtbarkeit und die Wertschätzung - und wir alle leben ja von Wertschätzung durch andere Menschen - einfach nicht mehr gegeben."

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Übergang ohne Vorbereitung

Vor allem der plötzliche Wechsel in den Ruhestand - quasi von hundert auf null - lasse viele in ein Loch fallen. "Sämtliche Lebensphasen und Übergänge werden irgendwie vorbereitet. Die Kita ist die Vorbereitung für die Schule. Lehre oder Ausbildung sind eine Vorbereitung in den Beruf. Nur dieser Übergang aus dem Beruf in den Ruhestand, in die letzte und mitunter längste Lebensphase, wird kaum vorbereitet", gibt Schilling zu bedenken.

Stattdessen herrschen hier bei vielen eher diffuse Ängste vor dem Altwerden wie die, dass man eben keinen Wert mehr für die Gesellschaft habe, nur noch Konsument und nicht mehr Bruttosozialproduktbringer sei. "Es ist eine Riesenherausforderung, diesen Übergang zu bewältigen, indem man sich selbst und seinen Selbstwert neu erfindet. Und darauf werden wir nicht vorbereitet."

Christian Peter Dogs, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, rät im "Tagesspiegel": "Besser, man verlässt den Beruf schrittweise: geht von der ersten Reihe in die zweite, und dann von der zweiten in die dritte. Nach Ende des Berufslebens ist man mit einer neuen Identität unterwegs - und die müssen Sie erst mal definieren." Hier gebe es aber auch Chancen, zum einen das eigene Ich wiederzuentdecken, das lange durch die berufliche Identität verdeckt war. Zum anderen könne man auch seine familiäre Identität oder die Partnerschaftsidentität stärken und sich so mehr um die Beziehung kümmern.

Um gar nicht erst in ein Loch zu fallen, geht es also darum, sich schon frühzeitig auf den Ruhestand vorzubereiten. Das kann so aussehen, dass man sich wieder mehr eigenen Hobbys und Interessen widmet, sich finanziell absichert, mehr Kontakte pflegt - und eben auch therapeutische Hilfe annimmt, um einer Altersdepression vorzubeugen oder sich bei dieser helfen zu lassen.

"Es ist tatsächlich so, dass Ältere häufig gar nicht wissen, dass sie einen gesetzlichen Anspruch auf therapeutische Betreuung haben", sagt Elke Schilling. Zudem sei das Thema Therapie in dieser Generation häufig noch mit Scham besetzt.

Was Schilling aber vor allem in der Gesellschaft fehlt, ist die positive Bewertung von Alter. Sie plädiert dafür, "die Vielfalt des Alters" in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. "Wenn ich mir öffentliche Altersthemen anschaue, dann sind das der Altenüberschuss, das Pflegeproblem, der Kostenüberschuss - also lauter negative Aspekte, die mit Alter in Verbindung gebracht werden. Wenn die positiven Aspekte auf der anderen Seite fehlen, dann kann ich ja nur depressiv werden."

Alter sei grundsätzlich negativ besetzt in der Gesellschaft, dabei sei es doch völlig egal, wie viele Lebensjahre man zähle. "Das hat mit meiner Lebensqualität und meinen Möglichkeiten recht wenig zu tun." Der Übergang in den Ruhestand müsse positiver besetzt werden, denn eigentlich sei dieser doch die "persönliche Unabhängigkeitserklärung" - und mit dieser könne man schließlich einiges Wunderbares anstellen.

Quelle: ntv.de

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