Das "Nie wieder" kommt nicht an "Wenn ich jetzt aus meinem Buch lese, ist überall Polizeischutz"
03.12.2023, 10:18 Uhr Artikel anhören
Seit dem 7. Oktober sei sein Jüdischsein plötzlich viel wichtiger als das Deutschsein, sagt C. Bernd Sucher.
(Foto: imago images / Future Image)
C. Bernd Sucher hat ein Buch geschrieben über jüdisches Leben in Deutschland nach der Shoah. Es heißt "Unsichere Heimat". Vor dem Druck gab es Überlegungen, hinter diesen Titel ein Fragezeichen zu stellen. Nach dem 7. Oktober steht das nicht mehr zur Diskussion, sagt der Autor ntv.de.
ntv.de: Sie beginnen Ihr neues Buch "Unsichere Heimat" mit der Feststellung, dass Juden in Deutschland weniger als ein Prozent der Bevölkerung ausmachen und beschreiben dann sehr ausführlich, dass sie als Gruppe doch sehr sichtbar sind. Bekommen Juden hierzulande die falsche Aufmerksamkeit?
C. Bernd Sucher: Das Verrückte ist ja, dass kaum ein Deutscher je einem Juden begegnet. Bei 220.000 Juden und 83 Millionen Menschen in diesem Land ist das auch relativ schwierig. Ich sage immer, das ist wie ein Sechser im Lotto. Deshalb wird das Judesein mit Vorurteilen belegt. Es heißt, Juden sind reich, Juden sind besonders intelligent. Aber es gibt auch sehr viele dumme Juden.
Woher kommen diese Vorurteile?
Erst ist da der Gedanke, die Juden sind unser Unglück und die Juden haben zu viel Einfluss. Danach erst suchen die Menschen nach Eigenschaften, die ihnen an Juden womöglich nicht gefallen. Nach Um- und Zuständen, für die sie Sündenböcke brauchen. Vor dem 7. Oktober hieß es auch, die Juden hätten Corona erfunden und entwickelten danach den Impfstoff zuerst für Juden.
Wäre weniger Sichtbarkeit gut?
Ja, die Sichtbarkeit kommt schließlich von außen. Die Sichtbarkeit kommt über Israel, den Zustand dieses Landes, über die Kriege, die dort geführt werden. Über die Siedlungspolitik. Ich bin sehr dafür, diese Siedlungspolitik zu kritisieren. Aber die Juden sind vor allem im Fokus durch Israel und weniger durch das, was hier in diesem Land geschieht.
Und durch die Erinnerungspolitik, an der Sie sich abarbeiten.
Das Problem mit dieser Art von Erinnerungspolitik ist: Sie geht von Politikern aus, die sagen, wir dürfen nicht vergessen, was im Holocaust passiert ist. Das ist wie ein Vater, der seinen Kindern sagt: Ihr dürft nicht vergessen. Aber irgendwann sind die Kinder es leid, das ständig zu hören. Und die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land sind es auch leid. Dieses "Nie wieder" geistert wie ein Gespenst durch alle Reden, aber es kommt nicht bei denen an, die das unterstützen müssten.
In ihrem Buch zitieren Sie immer wieder aus Reden deutscher Bundespräsidenten. Durch die Wiederholung erkennt man deutlich deren Formelhaftigkeit. Aber ist es eine Alternative zuzugeben, dass wir den Antisemitismus nicht verhindern können?
Natürlich. Es wäre beeindruckend, würde sich ein Bundespräsident hinstellen und sagen, wir probieren es seit 1945, wir haben jetzt das Jahr 2023 und wir haben es nicht geschafft. Man muss sich das einfach eingestehen: Wir haben alles probiert, wir haben Synagogen restauriert, wir haben jüdische Museen eingerichtet, wir haben Diskussionsveranstaltungen organisiert. All das, an dem Großteil der Bevölkerung vorbei.
Wäre das wirklich hilfreich?
Nein, es wäre nicht hilfreich. Aber es würde zumindest dieses "Nie wieder" stoppen. Und das "auf deutschem Grund wird es keinen Antisemitismus geben" - wohl wissend, dass, während sie das sagen, in ihrer unmittelbaren Umgebung der Antisemitismus wütet: Dass schon wieder Davidsterne an Häusern prangen und Aufschriften "Kauft nicht bei Juden".
Ihr Buch heißt Unsichere Heimat. Das sind zwei Wörter, die für mich nicht so richtig zusammenpassen. Schließt sich das nicht aus?
Vor der Veröffentlichung war die Diskussion: Wollen wir hinter dieses "Unsichere Heimat" nicht ein Fragezeichen setzen? Dagegen habe ich mich immer gewehrt. Und jetzt überlegen wir für die nächsten Auflagen, dass diese unsichere Heimat ein Ausrufezeichen kriegt. Nach dem 7. Oktober würde ich sagen: Machen wir es doch mit einem Ausrufezeichen.
Was ist denn Ihre Heimat?
Letztendlich merke ich, dass Heimat für mich nicht das Chiemgau ist, nicht München und nicht Hamburg, wo ich aufgewachsen bin. Heimat ist meine Sprache, meine Kultur. Wenn man das so sieht, dann ist die Heimat immer sicher, die nimmt man mit. Wenn man Heimat aber als Ort sieht, dann ist sie unsicher. Wenn überhaupt ein Ort Heimat ist, dann seid fast 20 Jahren unser Haus nahe des Chiemsees und nahe der Höfe unserer bäuerlichen Freunde, die für mich Huhn oder Pute servieren und kein Schwein.
Sie beschreiben in Ihrem Buch sehr anschaulich, dass der Schutz jüdischen Lebens notwendig ist, dadurch Juden aber auch isoliert werden. Auf absehbare Zeit bleibt das jetzt so, oder?
Bisher dachte ich immer okay, du bist ein Deutscher, der eine jüdische Mutter hat und auf diese Weise jüdisch ist und manchmal auch in die Synagoge geht. Aber plötzlich wird das Judesein so viel wichtiger als das Deutschsein. Wenn ich jetzt aus meinem Buch lese, dann ist überall Polizeischutz - selbst in der kleinsten Volkshochschule. Und dadurch wird mir klar, es gibt Menschen, die wollen, dass ich lese. Aber eben auch Menschen, die nicht wollen, dass ich lebe.
Wie sähe denn eine sichere Heimat für Sie aus?
Sichere Heimat wäre, wenn ein Jude nicht mehr beschützt werden müsste. Wenn man begriffe, dass der Schutz immer auch Signale sendet: Ihr seid was Besonderes. Besonders insofern, als es genug Leute gibt, die euch eigentlich nicht beschützen wollen.
Wenn heute irgendwo vor irgendeinem Haus, in welchem Stadtteil auch immer, ein Polizeiauto steht, dann wissen wir alle: Offensichtlich sind da Juden drin. Sicher ist Deutschland erst, wenn dieser Gedanke nicht mehr in den Köpfen ist.
Ich kann mir das natürlich nicht wirklich vorstellen. Aber ich habe diese Sichtbarkeit in den letzten Tagen zumindest ansatzweise gespürt, weil ich Ihr Buch gelesen habe und dann damit hier in Berlin im Bus saß. Ich habe manchmal überlegt: Gefährdet mich das, dass ich mit einem Buch rumfahre, wo ein Mensch mit Kippa darauf abgebildet ist?
Das finde ich jetzt schön, dass Sie das sagen. Sie sind wahrscheinlich kein Jude.
Nein.
Ich traue mich auch nicht, mit diesem Buch in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein, es so zu halten, dass man das Titelbild sieht. Ich achte darauf, nur die Rückseite zu zeigen. Wenn jemand diese Kippa sieht und sagt, du liest da so ein Scheiß-Juden-Buch, das würde ja schon reichen. Das würde einen schon verletzen.
Deswegen konnte ich damit gerade auch was anfangen, als Sie erklärt haben, wie sehr die Zuschreibung von außen die Selbstwahrnehmung ändert und dadurch auf einmal so wichtig wird.
Nur ein Beispiel: Parallel zu der Lesung aus diesem Buch mache ich noch eine Vortragsreihe, die mit dem Thema Judentum nichts zu tun hat. Und da sagen Intendanten, lieber Herr Sucher, Sie können gern einen Vortrag bei uns machen, aber wir trauen uns nicht, Sie ohne Polizei auftreten zu lassen.
Das müssen Sie sich mal vorstellen: Einen Vortrag über Schiller und Sie brauchen Polizeischutz, weil der Mensch, der den Vortrag hält, jüdisch ist. Danach hat vor dem 7. Oktober keiner gefragt.
Haben Sie Hoffnung, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändert?
Sie sind nun doch etwas jünger als ich: Wenn Sie Glück haben, können Sie mindestens noch 60 Jahre leben und in den 60 Jahren wird sich daran nichts ändern. Nicht mal am Polizeischutz.
Ich will Ihnen jetzt nicht zu nahetreten, aber mit über 70 Jahren: Worauf hoffen Sie denn für sich? Dass es nicht noch schlimmer wird?
Also wenn ich jetzt sage, ich wäre hoffnungslos - das ist auch nicht wahr. Aber nachdem, was jetzt gerade passiert, glaube ich nicht, dass es eine Kehrtwende gibt, die ich noch erlebe.
In Ihrem Buch erzählen Sie, wie dankbar Sie sind, wenn Ihnen jemand zu einem jüdischen Feiertag eine Karte schreibt. Gibt es öfter solche kleinen Gesten "guter jüdischer Sichtbarkeit"?
Als Kind hatte ich eine Freundin, wir hatten uns völlig aus den Augen verloren. Über das Buch und die Interviews, die ich gerade gebe, wurde sie wieder auf mich aufmerksam. Die meldete sich kürzlich und sagte: Bernd, wenn du gar nicht mehr weißt, wo du hinsollst, komm doch nach Dänemark. Solche Zeichen sind jetzt schön.
Aber auch ganz schön traurig, oder? Das kann ja durchaus verunsichern, wenn man anfängt zu denken, sollte ich das vielleicht wirklich machen?
Da haben Sie völlig recht. 1933 haben Menschen gesagt: "Pass mal auf, jetzt musst du mit dem gelben Stern rumlaufen, komm doch zu mir". Das Angebot jetzt, "Du kannst bei mir Unterschlupf finden" ist nicht eins zu eins das gleiche. Aber viel anders ist es nicht.
Mit C. Bernd Sucher sprach Lukas Wessling
Quelle: ntv.de