Panorama

Geburtstag der Holocaust-Zeugin Margot Friedländer feiert 102 Jahre Leben

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
2020 zelebriert Margot Friedländer die Enthüllung vor ihrem Ehrenbürgerporträt im Berliner Abgeordnetenhaus.

2020 zelebriert Margot Friedländer die Enthüllung vor ihrem Ehrenbürgerporträt im Berliner Abgeordnetenhaus.

(Foto: picture alliance/dpa)

1945 steht die damals 24-jährige Margot Bendheim vor dem Nichts: Als einzige ihrer Familie überlebt die deutsche Jüdin den Holocaust. Sie heiratet Adolf Friedländer und siedelt unter neuem Namen in die USA über. Mit 88 Jahren kehrt sie 2010 in ihre alte Heimat Deutschland zurück. Nun feiert Margot Friedländer ihren 102. Geburtstag.

Am Nachmittag des ersten Samstags im Oktober 2023 empfängt Margot Friedländer in ihrer Wohnung in einem Seniorenheim im Berliner Westen gerade Besuch, als die Holocaust-Überlebende die Nachricht hört: Die Hamas hat Israel überfallen und dabei mehr als Tausend Juden ermordet. Die Grausamkeit habe sich sehr schnell herumgesprochen, erklärt die Rentnerin im Gespräch mit der "Zeit". "Ich konnte es nicht glauben, dass so etwas nach dem Holocaust noch einmal geschieht. Diese Bitterkeit, die darin zum Ausdruck kommt. Dieser Hass. Ich fürchte, hier sehen wir, wie schnell Menschen beeinflusst werden können. For right or wrong." Ihr selbst seien der Holocaust und ihre Erlebnisse immer präsent. "Ich werde die Sache nicht los, als ob es gestern wäre. Und natürlich sehe ich nach diesen Morden die Bilder von damals wieder vor mir."

Berliner Kindheit

Erinnerungsbilder: Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer betrachtet in ihrer Wohnung in Berlin Fotos von ihrer Familie.

Erinnerungsbilder: Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer betrachtet in ihrer Wohnung in Berlin Fotos von ihrer Familie.

(Foto: picture alliance / Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/ZB)

Als Anni Margot Bendheim am 5. November 1921 in der Lindenstraße in Berlin geboren wird, sind ihre Eltern genau ein Jahr und einen Tag verheiratet. Margot ist die erste Tochter von Auguste und Arthur. Auch ein Großteil der jüdischen Verwandtschaft lebt in Berlin. Vier Jahre nach ihrer Geburt bekommt Margot einen kleinen Bruder: Ralph. Die Großeltern verhätscheln die kleine Margot. Als fromme Juden prägen sie ihre Kindheit religiös. Dagegen legen Margots Eltern weniger Wert auf jüdische Traditionen: Die Bendheims feiern nicht nur Chanukka, sondern auch Weihnachten.

Jahrzehnte später beschreibt die Überlebende ihr Aufwachsen in bürgerlich-jüdischen Verhältnissen im Berlin der 20er-Jahre als behütet, umsorgt und glücklich: Jeden Sommer und an den Wochenenden fährt die Großfamilie an den Scharmützelsee, wo ein Onkel ein Gut besitzt. Schon früh entwickelt das Mädchen eine Leidenschaft für Mode. Die wurde ihr in die Wiege gelegt, denn ihre Familie führt ein lukratives Knopfgeschäft. Sie träumt davon zu schneidern und selbst Kleider zu entwerfen. Bis heute ist es der nur 1,60 Meter großen Seniorin wichtig, dass ihre Kleidung perfekt sitzt. So berichtet sie im Gespräch mit der "Zeit" davon, sie habe nach einem Sturz so viel Gewicht verloren, dass sie ihr Kostüm hätte ändern müssen.

Erbstücke aus der Vergangenheit

In der Zeit nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten bewegt die Ehekrise ihrer Eltern die damals 13-Jährige teilweise mehr als die politischen Geschehnisse, die sie nicht versteht. Mit den stärker werdenden Repressionen gegen Juden in Deutschland in den 1930er-Jahren rückt die Frage der Auswanderung immer mehr in den Vordergrund. Doch familiäre Bande halten die Bendheims in Berlin.

"Ermordet in Auschwitz": Stolpersteine für die Familie der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer vor dem Wohnhaus in der Skalitzer Straße 32 in Berlin.

"Ermordet in Auschwitz": Stolpersteine für die Familie der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer vor dem Wohnhaus in der Skalitzer Straße 32 in Berlin.

(Foto: picture alliance / Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/ZB)

1937 lassen sich ihre Eltern scheiden. Erst jetzt denkt ihre Mutter ernsthaft über Auswanderung nach: Der Zweite Weltkrieg beginnt und mehrere Versuche, das Land zu verlassen, scheitern. Im Januar 1943 planen Mutter, Bruder und Margot nach Schlesien zu fliehen. Doch kurz vorher wird der erst 17-jährige Ralph von der Gestapo geschnappt. Der Ausreiseplan geht schief: Am 20. Januar 1943 wartet an dem vereinbarten Treffpunkt, einer Wohnung in der Skalitzer Straße 32, statt der Mutter ein Gestapo-Mann. Daraufhin sucht die damals 21-jährige Margot nach ihr. Bei einer flüchtigen Bekannten erhält Margot lediglich die Nachricht, dass sich ihre Mutter dazu entschlossen hätte, zur Polizei, also mit Ralph, zu gehen. "Versuche, dein Leben zu machen", beendet die Bekannte die Nachricht und überreicht Margot die Handtasche ihrer Mutter, in der die Tochter ein Adressbüchlein und eine Bernsteinkette findet.

Margot geht in den Untergrund. Sie lässt sich die schwarzen Haare tizianrot färben und die Nase operieren. Fünfzehn Monate taucht sie mit falscher Identität in Berlin unter: Sie zieht von Versteck zu Versteck - eines schlimmer als das nächste. Schließlich wird sie im April 1944 in der Joachimsthaler Straße kontrolliert und muss mit auf die Wache. Auf dem Weg dorthin verkündet sie "Ich bin jüdisch". Nach den Monaten im Untergrund und einem Leben unter falscher Identität fühlt sie sich nun "wieder mit dem Schicksal ihrer Familie und aller anderen Juden vereint", wie sie in ihrer Autobiografie schreibt.

Hochzeit in Theresienstadt

Am 6. Juni 1944 kommt sie im überfüllten Konzentrationslager Theresienstadt an. Weil sie gut nähen kann, wird sie in einer Schneider-Werkstatt eingesetzt. In ihrer Autobiografie beschreibt sie den täglichen Überlebenskampf im Lager: Hunger, Schmutz und Enge bestimmen ihr Leben. Elf Monate lebt sie mit der Angst, weiter in den Osten deportiert zu werden. Sie versucht, die Bedingungen auszuhalten, durchzuhalten, zu überleben.

Anfang 1945 trifft sie im KZ auf einen alten Bekannten: Adolf Friedländer. "Ihn zu sehen war, wie nach Hause zu kommen, nach Berlin, in das Berlin, das es früher einmal gegeben hatte." Gemeinsam überleben sie die letzten Monate des Krieges. Sechs Wochen nach der Befreiung traut ein Rabbiner das Paar noch in Theresienstadt. Im Juli 1946 siedeln sie in die USA über und erhalten die amerikanische Staatsbürgerschaft. Adolf wird Geschäftsführer des jüdischen Kulturvereins 92nd Street Y in New York. Margot arbeitet als Schneiderin und später als Agentin in einem Reisebüro. Das Paar bleibt kinderlos. Zu Hause sprechen sie weiter deutsch miteinander, über das Erlebte schweigen sie. Auch wenn das Ehepaar seit 1958 jedes Jahr sechs Wochen nach Europa reist, kehren Adolf und Margot nie gemeinsam zurück nach Deutschland.

Rückkehr der Heimatlosen

ANZEIGE
"Versuche, dein Leben zu machen": Als Jüdin versteckt in Berlin
2067
13,00 €
Zum Angebot bei amazon.de

52 Jahre lang ist Adolf ihr Anker. Nach dem Tod ihres Mannes 1997 fühlt sich Margot zunächst orientierungslos. Angeregt durch einen Memory-Writing-Kurs beginnt sie, sich mit den schmerzhaften Erinnerungen zu beschäftigen. Der Veröffentlichung autobiografischer Texte folgt kurz darauf eine Zusammenarbeit mit dem deutschen Regisseur Thomas Halaczinsky: 2003 reist Margot Friedländer zum ersten Mal wieder in ihre alte Heimat Berlin. Der Film "Don't call it Heimweh" dokumentiert die Rückkehr der Überlebenden ins Land der Täter. Zeugnis ablegen wird für sie zur existenziellen Aufgabe. 2008 schreibt sie eine Autobiografie, die sie mit der Aufforderung ihrer Mutter betitelt: "Versuche, dein Leben zu machen".

Zur Frage nach ihrer Heimat antwortet sie 2010 dem "Hamburger Abendblatt": "Ich habe keine Heimat." Diese läge in der Vergangenheit. Und trotzdem zieht sie 2010 im Alter von 88 Jahren in die Seniorenresidenz im Westen Berlins. Im selben Jahr verleiht ihr der damalige Berliner Innensenator Ehrhart Körting die deutsche Staatsbürgerschaft. Seit 2018 ist Margot Friedländer Ehrenbürgerin der Stadt Berlin. Doch den Verlust ihrer Heimat, das jüdische Berlin der 20er-Jahre, hat sie nie überwunden.

"Nie wieder!" - Eine Botschaft weitergeben

Margot Friedländer hält die Bernsteinkette als eines der wenigen Erbstücke, die ihre Mutter ihr hinterließ, in Ehren.

Margot Friedländer hält die Bernsteinkette als eines der wenigen Erbstücke, die ihre Mutter ihr hinterließ, in Ehren.

(Foto: picture alliance / Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/ZB)

Wiederholt beschreibt sie Schuldgefühle, überlebt zu haben. Ihr ganzes Leben begleitet sie die Frage, ob sie nicht mit ihrem Bruder und ihrer Mutter hätte gehen sollen. Ihre Mutter bleibt für sie eine treibende Kraft. An ihren Bruder erinnert sie in ihrer Autobiografie: "Wenn ich gewusst hätte, wie wenig Zeit uns noch blieb, hätte ich versucht, ihn besser kennenzulernen. So kann ich sagen, ich habe meinen Bruder geliebt, aber ich habe ihn nicht wirklich gekannt. Ich versuche mir vorzustellen, was aus ihm geworden wäre: Ralph als Mann, als Vater, als alter Herr. Doch vor mir sehe ich immer den Jungen mit der Hornbrille und den dicken, schwarzen Haaren (…)." In ihrem Überleben liegt eine Bürde, eine Verpflichtung zu erinnern und die Erinnerung weiterzugeben.

Nach fast 90 Lebensjahren, einem Alter, in dem sich viele bereits zur Ruhe gesetzt haben, beginnt sie eine neue Berufung: die Erinnerungsarbeit. Mit der Botschaft "Nie wieder!" besucht die Zeitzeugin mehrmals die Woche Schulen und andere Einrichtungen in ganz Deutschland. Mit der Bernsteinkette ihrer Mutter um den Hals liest die Holocaust-Überlebende aus ihrer Autobiografie, spricht über ihr Leben, klärt Menschen auf, appelliert an die Menschlichkeit und tritt dabei auch mit dem Publikum in den Dialog: "Wenn ich in einer Schulklasse bin und zum Ende komme, mein Buch zuschlage, dann sage ich immer: 'Ihr werdet euch wundern, dass ich zurückgekommen bin. Ich bin zurückgekommen, um euch die Hand zu reichen. Damit ihr die Zeitzeugen sein könnt, die wir nicht mehr lange sein können'", sagt sie der "Zeit". Ihr Ziel ist es, die Botschaft nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Heute ist Margot Friedländer mit nun 102 Jahren eine der letzten noch lebenden Überlebenden des Holocaust. Zuletzt besucht sie im Frühjahr 2023 eine Schule.

Mehr zum Thema

Für ihre Arbeit als Zeitzeugin, ihren Einsatz im Kampf gegen Antisemitismus und für Menschenrechte hat sie in den vergangenen Jahren verschiedene Ehrungen und Auszeichnungen erhalten, unter anderem das Bundesverdienstkreuz am Bande, die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin und zuletzt das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

Zur Ruhe setzen will sie sich nicht. Um nach ihrem Ableben die Weiterführung ihres Lebenswerks zu sichern, gründete sie eine Stiftung: "Ich spreche für die, die nicht mehr sprechen können. Für die sechs Millionen Menschen, Männer, Frauen, Kinder, die man umgebracht hat, nur weil sie Juden waren", sagt sie im Juli 2023 dem "Tagesspiegel". Wenn sie stirbt, will Margot Friedländer neben ihrem Mann in New York beerdigt werden.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen