Unter russischem Beschuss Beim Einsatz in Pokrowsk riskieren die "White Angels" ihr Leben
01.02.2025, 09:26 Uhr Artikel anhören
Ein Junge wird aus Pokrowsk evakuiert - auch Busse wie dieser geraten ins Visier der russischen Drohnen.
(Foto: AP)
Die Russen lernen dazu. In der ukrainischen Frontstadt Pokrowsk machen sie mit technisch ausgefeilten Drohnen Jagd auf Zivilisten. Um sie zu retten, riskieren die Spezialkräfte der "White Angels" ihr eigenes Leben.
Viktor Korovko hat es eilig: Mit dem gepanzerten Wagen rast der Polizist die Straßen von Pokrowsk entlang. Er ist auf der Flucht. Über der Frontstadt kreisen feindliche Drohnen und nehmen jeden ins Visier. Es ist Ende Dezember, und die russischen Truppen sind noch drei Kilometer von der Stadtgrenze entfernt. Doch der 32-Jährige fährt jeden Tag in die umkämpfte Stadt. Er ist Mitglied der "White Angels", einer Spezialeinheit der ukrainischen Polizei. Um die letzten Bewohner noch rechtzeitig aus Pokrowsk herauszuholen, riskieren sie Leib und Leben.
Über eine Umleitung geht es in Richtung Zentrum. Der direkte Weg wäre viel zu gefährlich. Jeden Tag werden neue Routen besprochen, um den umherkreisenden Augen des Feindes zu entkommen. Die Frontstadt, die einst 60.000 Einwohner zählte, ist nach der monatelangen russischen Offensive leergefegt. Vereinzelt ziehen Menschen mit dem Rad oder zu Fuß die Straße entlang - Propheten in eigener Mission, die Überleben heißt. Sie tragen Einkaufstaschen, einige haben Heizungen oder Rohre auf den Gepäckträger gespannt.
Offiziell harren noch bis zu 7500 Bewohner hier aus. Sie hindert zumeist das Alter, die Armut, die Sucht, eine Krankheit oder Behinderung an der Flucht. "Wir sehen hier viele Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen - allein und mittellos", sagt Viktor. Sie leben in Kellern, oder haben es sich im Korridor eingerichtet, die "Zwei-Wände-Regel" befolgend. Die soll vor den schlimmsten Folgen eines Einschlags schützen. Eine Garantie gibt es nicht. Genauso wenig wie fließend Wasser oder Heizung. Der Strom ist seit drei Tagen nahezu komplett verschwunden.
"White Angels" navigieren durch Schuttberge
Mit der nahenden Frontlinie wird die Aufgabe der "White Angels" immer drängender - und riskanter. Befestigungen machen es den Polizisten schwer, zu den Adressen zu gelangen: Panzersperren aus Beton blockieren ganze Straßenabschnitte. Große Baumstämme versperren den Weg auf eine Hauptstraße. Viktor muss immer wieder umdrehen, denn an den Kreuzungen wurden Schuttberge aufgehäuft. Es gibt kein Netz; die Männer navigieren mit Offline-Karten.
Doch was denkt Viktor über die Menschen, die bis zum letzten Moment warten und so sich und ihn selbst in große Gefahr bringen? Er sagt dazu nur, er habe sich die Aufgabe ausgesucht, sie zu retten. Bevor er zu den "White Angels" wechselte, war er leitender Mitarbeiter der Drogenfahndung in der Nachbarstadt Kurachowe, die vor Kurzem von den Russen besetzt wurde. Viktor zeigt ein Foto seines zerstörten Wohnhauses. "Mir ist klar, dass ich höchstwahrscheinlich nie wieder zurückkehren kann." Schmerzhaft sei das. Er könne teils verstehen, warum die Menschen in ihrer Heimat Pokrowsk ausharren.
Viele würden erst erkennen, in welcher Gefahr sie schweben, wenn sie dem Tod bereits ins Auge sehen, sagt Viktor. Die meisten hofften bis zum Schluss, vom Artilleriebeschuss verschont zu bleiben. Doch die Hoffnung auf ein Überleben per Zufallsprinzip bringt sie in Lebensgefahr.
"Zwei Stunden lang saßen wir fest und wurden verfolgt"
Immer wieder würden die russischen Drohnen Zivilisten ins Visier nehmen, erzählt Viktor. "Meistens sind das Fahrer und Passagiere von Fahrzeugen. Oder diejenigen, die im Dunkeln zu Fuß unterwegs sind." Täglich verzeichne die Polizei Angriffe auf Anwohner durch FPV-Drohnen, sagt auch der militärische Verwaltungsleiter von Pokrowsk, Serhii Dobryak. Kommunalfahrzeuge und Busse lokaler Unternehmen gerieten ebenfalls ins Visier."Früher wurden Drohnen vom Feind vor allem zu Aufklärungszwecken und zur Korrektur von Artilleriefeuer eingesetzt", sagt Viktor. Heute würden sie überwiegend als "leistungsstarke Präzisionswaffen" eingesetzt. "Sie suchen nicht nur nach einem Ziel, sondern verfolgen es."
Viktor spielt ein Video von einer Evakuierung Mitte November ab. Es zeigt eine verletzte Rentnerin mit klaffendem Loch in der Wange. Sie wurde von einem Splitter getroffen. Erst am dritten Tag trauen sich Viktor und sein Team überhaupt zu ihrem Haus. Ein weiterer verletzter Mann wartet dort auf die Rettung. Im Video werfen die Drohnen immer wieder Granaten ab, bis sie das Dach zerstören, während Viktor und die anderen versuchen, auszuweichen. "Zwei Stunden lang saßen wir so fest und wurden verfolgt." Schließlich gelingt es ihm und seinem Kollegen, die beiden Zivilisten zu evakuieren - unter weiterem Drohnenbeschuss, der dank Abwehrsystem zwar danebengeht, aber den Wagen außer Gefecht setzte.
Ein weiteres Video zeigt die Bergung eines getöteten Zivilisten, dessen Auto von einer russischen Drohne getroffen wurde. "Es war Anfang Dezember im Dorf Kotlyno in der Nähe von Pokrowsk. Die Drohne ist mit einem Projektil für einen Panzerabwehrraketenwerfer ausgestattet, das auch leicht gepanzerte Fahrzeuge zerstören kann." In dem Wrack ist vom Oberkörper des Mannes kaum etwas zu erkennen. Vier Männer versuchen, die blutige Masse aus dem Auto zu bergen.
Erst im vergangenen Jahr, in seinem Heimatort Kurachowe, erlebte Viktor zum ersten Mal selbst die ganze Zerstörungskraft der Kamikaze-Drohnen. "Von 2014 bis 2023 war Artillerie die größte Gefahr." Damals hatten die Evakuierungsteams auch in unmittelbarer Nähe des Feindes noch mehr Zeit für ihre Rettungsaktionen. Doch spätestens seit August machen die Drohnen solche Einsätze nahezu unmöglich. Auch deshalb hofft das Team, dass der zweite Wagen mit dem Drohnenabwehrsystem bald repariert ist.
Spenden für Panzerwagen oder Drohnenabwehrsysteme
Um die Reparatur und die Beschaffung ihrer Ausrüstung müssen sich Viktor und seine Männer neben den lebensgefährlichen Einsätzen selbst kümmern, wie so viele ukrainische Soldaten auch. Hilfe bekommen sie dabei nur von Ehrenamtlichen: Ob Panzerwagen oder Drohnenabwehrsysteme - freiwillige Helfer aus Transkarpatien im Westen der Ukraine sammeln Spenden und bringen immer wieder das Nötigste vorbei. "Ohne sie wäre unsere Arbeit gar nicht möglich", sagt Viktor. Das Netzwerk von Freiwilligen und Spendern finanziert nahezu komplett die Ausstattung des kleinen Spezialkommandos. Den Rest bewältigt es aus eigener Tasche.
Während Kanzler Olaf Scholz die Notwendigkeit der Hilfen für die Ukraine infrage stellt, fehlt es dort im dritten Kriegsjahr an allen Ecken und Enden. Noch dazu wird die für die Sicherheit und Abwehr kritische Ausrüstung immer teurer. Das liege auch daran, dass Drohnen sich in Massen einsetzen lassen, erklärt der britische Drohnenexperte Steve Wright, der selbst an deren Entwicklung und Programmierung arbeitet: "Die schiere Anzahl ist auf die Überwältigung dieser Systeme angelegt." Ein weiterer Faktor: Die Innovationen würden im Halbjahrestakt voranschreiten. Der Krieg - gepaart mit einer Technik, die einen Bruchteil dessen kostet, was sie zerstören soll - beschleunige das Innovationstempo.
Die Innovationen machen Viktor und seinem Team an der Front zusätzlich zu schaffen: Ständig müssen sie darauf achten, dass ihre Abwehrsysteme überhaupt richtig eingestellt sind für alle möglichen Bedrohungen aus der Luft. Mit einem Gerät testen sie dafür den Frequenzbereich ihres Anti-Drohnen-Systems, denn die Frequenzen ändern sich ständig. Doch Viktor gibt zu: Dafür ist nicht immer Zeit. Kommt eine Anfrage für eine Evakuierung, müssen Entscheidungen innerhalb von Sekunden getroffen werden. Für Wartung und Perfektion des Anti-Drohnen-Systems bleibt kaum Zeit.
Immer häufiger stellen Viktor und seine Kollegen aber fest, dass ihre teure Ausrüstung gänzlich versagt: "In letzter Zeit wurden Drohnen sehr schnell modernisiert und ihre Reichweite deutlich erhöht, weil Verstärker eingesetzt werden, die auf anderen Drohnen montiert sind und die Wirksamkeit des Signals erweitern", erklärt Viktor. Andere Drohnen würden ihr Signal über Glasfaserkabel übertragen, die bis zu zehn Kilometer reichen. "Diese sind für alle Drohnen-Detektoren unsichtbar. Einige Drohnen können außerdem auch nachts 'jagen'." Es erschwere die Arbeit erheblich, sagt Viktor, "weil es schwierig ist, unter solchen Bedingungen unsichtbar zu bleiben".
"Es ist im Grunde ein Cyber-Krieg"
"Das, was an elektronischer Kriegsführung seit 2022 möglich war, läuft jetzt so allmählich aus", erklärt Ulf Barth. Der Software-Ingenieur war als Reservist unter anderem am Aufbau des Cyber Innovation Hub der Bundeswehr beteiligt. "Das heißt, alle aktuelle Elektronik zum Stören von Frequenzen, wird gegen die nächste Generation der Drohnen wirkungslos sein." So auch die Technik, auf die Viktors Team setzt. Neben der Umgehung durch Glasfaser-Drohnen werde auch die Störung im Bereich GPS immer schwieriger, etwa durch veränderte Antennensets. Zum Teil käme dabei auch schon KI zum Einsatz, sagt Barth.
"Es ist im Grunde ein Cyber-Krieg und dieser schreitet rasant voran", so der britische Drohnenexperte Wright. Die Glasfaser-Drohnen seien für den Moment ein Problem, hätten aber Einschränkungen. "Sie haben nur eine begrenzte Reichweite und können bislang nicht schnell in Massen produziert werden." Der nächste Schritt in der Entwicklungsstufe seien daher autonome Drohnen, sagt Wright. Für Viktor, sein Team und die Zivilisten gäbe es dann gar keinen Schutz mehr.
Ende Januar harren laut Behördenangaben immer noch rund 7000 Zivilisten in Pokrowsk aus. Ein Problem für die Soldaten vor Ort, die für die Verteidigung der Stadt Stellungen suchen, und für die "White Angels" - für die das Risiko mit jedem Tag steigt. Täglich wird evakuiert, mal sind es bis zu 10, mal mehr als 20 Personen. Viktors Aufgabe, alle Menschen in Sicherheit zu bringen, scheint angesichts der Gefahr kaum noch zu bewältigen.
Ende Januar kontrollieren die Russen nach Viktors Angaben bereits alle Ein- und Ausfahrten aus der Luft. Nahezu täglich melden lokale Medien, dass Zivilisten unter Beschuss geraten sind. An einem Freitag sei wieder ein ziviler Pkw mit einer FPV-Drohne attackiert worden, schreibt Viktor in einer E-Mail, anbei schickt er ein Bild des komplett zerstörten Wagens. Das ältere Ehepaar hatte Glück - sie überlebten nahezu unverletzt, doch der Motor ist hinüber. Sie wollten im Nachbarort Gas zum Heizen holen. Ob sie Pokrowsk nach diesem Schock verlassen? Viktor kann es nur hoffen.
Quelle: ntv.de