Außenpolitik folgt Interessen Berlin muss endlich strategisch denken
01.11.2025, 14:58 Uhr Artikel anhören
Wenn Trump und Xi sich einigen - wo bleibt Europa? Und was will Deutschland überhaupt? Strategisches Denken ist wichtiger denn je.
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Wenn der Außenminister oder der Bundeskanzler andere Länder besuchen, sprechen sie oft Menschenrechte oder andere Missstände an. Ist das noch zeitgemäß? In keinem Falle dürfen strategisches Denken und eine nüchterne Interessenpolitik zu kurz kommen.
Die deutsche Außenpolitik steckt seit Jahren in einer Sinnkrise. Fast jede Bundesregierung bekennt sich dazu, sie sei "interessengeleitet". Doch in der Praxis dominieren symbolische Gesten und eine Haltungspolitik, die mehr auf das eigene Gewissen als auf konkrete Ergebnisse zielt. Das ist ein Problem - nicht, weil Werte unwichtig wären, sondern weil eine Außenpolitik ohne klare Interessen weder handlungsfähig noch glaubwürdig ist.
Der Politikwissenschaftler Peter R. Neumann lehrt und forscht am King's College London.
(Foto: Karlheinz Schindler/dpa-Zentralb)
Wenn die neue Bundesregierung also tatsächlich eine interessengeleitete Außenpolitik anstrebt, wie Außenminister Johannes Wadephul mehrfach betont hat, sollte der erste Schritt darin bestehen, die eigenen Interessen überhaupt erst einmal zu definieren. In gewisser Weise sind sie offensichtlich: Sicherheit, Wohlstand und Souveränität.
Sicherheit bedeutet Schutz vor äußeren Bedrohungen, aber auch Stabilität in der eigenen Nachbarschaft. Wohlstand ist nicht nur eine ökonomische Kategorie, sondern Grundlage politischer Stabilität. Und Souveränität heißt, eigene Entscheidungen weitgehend unabhängig treffen zu können - in Verteidigungsfragen, in der Energiepolitik, in der digitalen Welt. Diese drei Ziele bilden das Rückgrat jeder modernen Außenpolitik. Sie sind nicht Ausdruck von Egoismus, sondern Bedingung dafür, dass Deutschland überhaupt handlungsfähig bleibt.
Der zweite Schritt betrifft das Verständnis von Außenpolitik selbst. Außenpolitik ist längst kein exklusives Feld der Diplomatie mehr. Sie durchzieht nahezu alle Bereiche staatlichen Handelns: Wirtschafts-, Verteidigungs-, Energie-, Entwicklungs- und zunehmend auch Innen- und Finanzpolitik. Wer Außenpolitik ernst nimmt, muss diese Dimensionen zusammenführen. Genau deshalb ist die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrats, in dem diese Politikfelder strategisch verzahnt werden, so wichtig. Sollte dieser so funktionieren wie beabsichtigt, wird er nicht nur die Koordination verbessern, sondern auch langfristige Prioritäten klären - etwa wenn Energieabhängigkeit sicherheitspolitische Risiken schafft oder wenn es um den Zugang zu kritischen Rohstoffen geht. Eine Außenpolitik "aus einem Guss" ist keine technokratische Spielerei, sondern Voraussetzung für strategisches Handeln.
Drittens muss sich das Verhältnis von Werten und Interessen neu justieren. Eine interessengeleitete Außenpolitik bedeutet nicht, dass Werte über Bord geworfen werden. Im Gegenteil: Wer seine Interessen erfolgreich verfolgt, schafft überhaupt erst den Handlungsspielraum, um Werte glaubwürdig zu vertreten. Menschenrechte, Demokratieförderung und Rechtsstaatlichkeit bleiben zentrale Anliegen - aber sie müssen pragmatisch und verantwortungsethisch umgesetzt werden. Die entscheidende Frage lautet: Führt eine bestimmte Politik tatsächlich zu konkreten Verbesserungen, oder dient sie vor allem der moralischen Selbstvergewisserung? Außenpolitik ist nicht bloß Symbolpolitik, sondern ein Feld, wo es auf Ergebnisse ankommt.
Was folgt daraus für Deutschlands Verhältnis zum Rest der Welt?
Europa bleibt der zentrale Bezugspunkt. Nicht nur aus historischem Idealismus, sondern aus nüchterner Vernunft. Europa ist Deutschlands größter Markt und der geographische Raum, in dem sich seine Sicherheit entscheidet - nicht zuletzt gegenüber einem aggressiv-revisionistischen Russland. Damit Europa funktioniert, darf sich Berlin allerdings nicht mehr so stark wie bisher auf die Langsamkeit der EU-Institutionen verlassen. Zusätzlich zu Brüssel braucht es mehr Koalitionen der Willigen, wie sie im Ukraine-Krieg entstanden sind - flexible Bündnisse zwischen Staaten, die bei bestimmten Themen handeln wollen und auch Nicht-EU-Staaten (wie etwa Großbritannien, Norwegen und die Schweiz) einbinden. Entscheidend ist, dass Europa handlungsfähig bleibt, nicht, dass jeder Schritt der institutionellen Orthodoxie entspricht.
Das Verhältnis zu den USA bedarf einer realistischen Neubewertung. Die enge Bindung an Washington war lange der Kern deutscher Außenpolitik. Doch Abhängigkeit ist keine Partnerschaft, und obwohl Deutschland gegenüber Amerika stets kooperationsbereit sein sollte, darf es sich niemals erpressen lassen. Das setzt voraus, dass Deutschland -und Europa - stärker in die eigene Verteidigungsfähigkeit investieren und besonders im Bereich der Geheimdienste und bei digitalen Schlüsseltechnologien souveräner werden. Das Ziel ist kein Anti-Amerikanismus, sondern Selbstbestimmung: eine Partnerschaft auf Augenhöhe, die nicht aus Abhängigkeit, sondern aus beiderseitigem Interesse besteht.
Im Nahen Osten war deutsche Politik zu oft von amerikanischen Idealen geprägt, die mit der Realität der Region wenig zu tun hatten. Mit Ausnahme Israels - dessen Sicherheit für Deutschland Staatsräson bleibt - sollte deutsche Politik dort pragmatischer werden. Dazu gehört ein weniger verkrampftes Verhältnis zur Türkei und eine engere Beziehung zu den Golfstaaten, die als Investoren und Energiepartner von zentraler Bedeutung sind. Wir sollten ihnen mit Offenheit statt moralischer Belehrung begegnen.
Entwicklungspolitik nicht als humanistisches Feigenblatt
Afrika ist die Region, in der sich das Scheitern einer rein werteorientierten Politik am deutlichsten zeigt. Belehrungen aus Europa werden dort zunehmend als postkoloniale Anmaßung empfunden. Deutschlands Interessen liegen auf der Hand: Rohstoffe, Energie, Migration, aber auch die Entwicklung neuer Märkte. Eine moderne Entwicklungspolitik - sei es in Afrika, Lateinamerika oder anderswo - sollte deshalb fester Bestandteil einer strategisch gedachten Außenpolitik sein - nicht als humanitäres Feigenblatt, sondern als Instrument gemeinsamer Gestaltung. Denn Entwicklungshilfe funktioniert dann am besten, wenn sie auch wirtschaftliche und politische Interessen beider Seiten bedient.
Asien schließlich ist der Kontinent des 21. Jahrhunderts - und Deutschland droht gerade hier, geopolitisch abgehängt zu werden. Das Verhältnis zu China muss stabil, aber balanciert sein: wirtschaftliche Kooperation ja, strategische Abhängigkeit nein. Gleichzeitig darf Asien nicht auf China reduziert werden: Indien, Südkorea, Vietnam und Indonesien sind aufstrebende Partner, mit denen Deutschland viel enger kooperieren sollte. Deutschlands Diplomaten müssen in diesen Ländern deutlich aktiver sein als bisher.
Die Weltordnung verändert sich so grundlegend wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Neue Machtzentren entstehen, alte Strukturen verlieren an Gewicht. Wer jetzt keine Strategie hat, wird früher oder später zum Spielball anderer. Eine Außenpolitik, die auf Sicherheit, Wohlstand und Souveränität gründet, ist kein Rückzug ins Nationale, sondern der notwendige Schritt, um Deutschlands Werte in einer härter gewordenen Welt zu bewahren. Mehr noch: Wer eigene Interessen klar benennt, handelt verantwortungsvoll - gegenüber den eigenen Bürgern, aber auch gegenüber Partnern, die wissen, woran sie sind.
Am Ende geht es um mehr als eine bloße Neujustierung. Nur wer seine Interessen kennt, kann sie auch verteidigen - und nur wer sie verteidigt, kann glaubwürdig für seine Werte eintreten.
Peter R. Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King's College London.
Quelle: ntv.de