Papst spricht zu Europa Der unhöfliche Besuch aus Amerika
25.11.2014, 15:20 UhrDie Weltkriege, der Holocaust, die Teilung Europas: All das spielt für einen Argentinier eine andere Rolle als für einen Europäer. Die Perspektive des Papstes zur EU ist darum eine besondere. Zimperlich geht er mit seinen Gastgebern nicht um.
Wenn sich ein Papst in seiner weißen Soutane an das Rednerpult eines Parlaments stellt, erwartet man eine Rede über das große Ganze. Über die Fragen, die man im Alltag der Politik gerne vergisst, weil es Mühe macht, sich mit ihnen zu beschäftigen. Papst Franziskus wird diese Erwartung erfüllen, doch erst einmal macht er den Abgeordneten des Europaparlaments einen Vorwurf: Die Union gebe "das Bild eines gealterten und erdrückten Europas" ab. Später spricht er davon, Europa sei in Gefahr, "seine Seele zu verlieren". Diese Töne ist man von den Europapolitikern gewohnt, die damit ihren Willen zu Reformen ausdrücken wollen. Doch von einem Mann, der nie Bürger dieser EU war, also als Gast auftritt, klingt die Kritik härter. Franziskus kommt aus dem südamerikanischen Argentinien und ist der erste nicht-europäische Papst seit Jahrhunderten.
In der vorherrschenden Erzählung europäischer Politiker ist die EU ein Friedensprojekt, eine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg und ein Bekenntnis zu gemeinsamen Werten. Franziskus sieht den Ursprung der Union woanders: Im Mittelpunkt habe das Vertrauen auf den Menschen gestanden, "und zwar weniger als Bürger und auch nicht als wirtschaftliches Subjekt, sondern auf den Menschen als eine mit transzendenter Würde begabte Person". Die EU als Ort für die geistige Dimension des Menschen? Wenn man bedenkt, dass die ersten Schritte dieses Staatenbundes darin bestanden, den Handel mit Kohle und Stahl zu erleichtern, klingt das erst einmal abwegig.
Menschen werden "ausgesondert"
Was der Papst sagen will, ist, dass der Politik ihr Blick für den einzelnen Menschen abhanden komme. Menschen würden "wie Objekte behandelt, deren Empfängnis, Gestaltung und Brauchbarkeit man programmieren und sie dann wegwerfen kann, wenn sie nicht mehr nützlich sind, weil sie schwach, krank oder alt geworden sind".
Franziskus nennt mehrere Punkte, an denen die Politik ansetzen müsste: Das Thema Arbeit spielt eine große Rolle, auch das spezielle Problem der Jugendarbeitslosigkeit erwähnt er. Er nennt die Einsamkeit von alten Menschen, die ihrem Schicksal überlassen sind, die Einsamkeit von Jugendlichen, die keine Zukunftschancen haben. Er spricht von Armen und von Migranten und von dem Misstrauen der Bürger gegenüber den Institutionen der EU.
Der Mensch sei in Gefahr, als Konsumgut angesehen zu werden. Wenn er nicht mehr "zweckdienlich" sei, werde er "ausgesondert" wie im Fall der "Kranken im Endstadium, der verlassenen Alten ohne Pflege oder der Kinder, die vor der Geburt getötet werden". Das ist die bekannte katholische Lehre: Der Wert des Lebens ist von Gott gegeben, Sterbehilfe und Abtreibung sind darum tabu.
Kritik an Waffenhandel
Ähnlich deutlich wird er beim Thema Migration: "Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird!", sagt Franziskus – und bekommt dabei auch von den Politikern Applaus, die die aktuelle Politik der Abschottung unterstützen. Europa betreibe eine Politik der Eigeninteressen, die Konflikte in anderen Ländern nähre, sagt Franziskus. Aber diese Aussage versteckt er in einem Nebensatz. Besonders radikal ist der Papst in seiner Forderung nicht. Die Gesetze müssten fähig sein, "die Rechte der europäischen Bürger zu schützen und zugleich die Aufnahme der Migranten zu garantieren". Mit dem Verweis auf die Rechte europäischer Bürger lässt sich so manches Unrecht am Rande des Kontinents entschuldigen.
Der Besuch in Straßburg dauert nur wenige Stunden. Nach der Rede im EU-Parlament begibt sich Franziskus auch noch zum Europarat, in dessen parlamentarischer Versammlung Vertreter aus 47 Nationen zusammenkommen und der sich vor allem mit Menschenrechtsfragen befasst. Dort spricht der Papst auch über den Konflikt in der Ukraine, ohne ihn direkt zu benennen: "Freilich darf der Konflikt nicht ignoriert oder beschönigt werden; man muss sich ihm stellen. Wenn wir uns aber in ihn verstricken, verlieren wir die Perspektive, die Horizonte verengen sich, und die Wirklichkeit selbst zerbröckelt." Der Kontinent sehne den Frieden herbei und verfalle doch leicht den Versuchungen von einst. Durch Terrorismus werde der Frieden auf die Probe gestellt, der ungestörte Waffenhandel fördere dieses Problem.
Beim Thema Krieg und Frieden scheint sich der Papst verteidigen zu wollen. Denn viele der aktuellen blutigen Konflikte haben mit religiösen oder pseudo-religiösen Einstellungen zu tun. Wenn sich Europa an seine religiösen Wurzeln erinnere, sei es leichter immun gegen Extremismus, sagt der Papst vor dem Europaparlament. "Es ist gerade die Gottvergessenheit und nicht seine Verherrlichung, die Gewalt erzeugt", zitiert er seinen Vorgänger Benedikt XVI. In diesem Sinne appelliert er an die Abgeordneten, die "gute Seele" Europas wiederzuentdecken. Und er macht mit einem Zitat klar, was er damit meint: "Die Christen in der Welt sind das, was die Seele im Leib ist."
Quelle: ntv.de