Politik

Knappste Niederlage aller Zeiten Die "verschwendeten" Stimmen der Bundestagswahl

Sahra Wagenknecht und ihr gleichnamiges Bündnis verpassen den Einzug in den Bundestag um 13.435 Stimmen.

Sahra Wagenknecht und ihr gleichnamiges Bündnis verpassen den Einzug in den Bundestag um 13.435 Stimmen.

(Foto: IMAGO/Nordphoto)

Nie zuvor hat eine Partei den Einzug in den Bundestag so knapp verpasst wie das BSW in diesem Jahr. Nur etwas über 13.000 Stimmen mehr für die Wagenknecht-Partei und die Ausgangslage für Wahlsieger CDU hätte sich drastisch verschlechtert. Deren Chef Merz profitiert von der Sperrklausel.

Erst sehr spät in der Wahlnacht entscheidet sich die Besetzung des nächsten Bundestags - und damit wohl auch das Schicksal der kommenden Bundesregierung. Die Bundeswahlleiterin pflegt die Stimmen aus den letzten drei Wahlkreisen - Flensburg, Viersen und Mannheim - in die offizielle Ergebnisliste ein, doch das Ruder können die westdeutschen Städte erwartungsgemäß nicht mehr herumreißen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht verpasst die Fünf-Prozent-Hürde so knapp, wie noch nie eine Partei zuvor in der 76-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. 2.468.670 Menschen machten ihr Kreuz beim BSW, das entspricht 4,972 Prozent. An der Fünf-Prozent-Hürde schrammt das BSW am Ende somit um exakt 13.435 Stimmen vorbei.

Deutlicher fällt das Ende aller Bundestags-Hoffnungen für die FDP aus. Mit 4,3 Prozent kassieren die Liberalen die heftigste Schlappe ihrer Parteigeschichte. Der Vorsitzende Christian Lindner kündigt noch am Wahlabend seinen Abschied aus Partei und Politik an.

Durch das knappe Bundestags-Aus von BSW und FDP, jeweils oberhalb von vier Prozent, steht fest, dass bei dieser Bundestagswahl besonders viele Zweitstimmen "verschwendet" wurden. Insgesamt entfallen 13,7 Prozent der Stimmen auf Parteien unterhalb der entscheidenden Fünf-Prozent-Hürde. Oder anders gesagt: Die Zweitstimmen von rund 13,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler werden im nächsten Bundestag nicht repräsentiert.

Eine derartige Repräsentationslücke gab es in der Geschichte bundesdeutscher Wahlen erst einmal. Bei der Bundestagswahl 2013 hatten sogar 15,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler für Parteien unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde gestimmt. Die FDP scheiterte damals mit 4,8 Prozent noch viel knapper als dieses Jahr, die AfD kam bei ihrer ersten Bundestagswahl auf 4,7 Prozent. Im Parlament stand fortan eine besonders große GroKo einem kleinen Oppositionsblock aus Linken und Grünen gegenüber. Das Regieren für Union und SPD war angesichts der überdeutlichen Mehrheitsverhältnisse vergleichsweise einfach.

Sperrklausel rettet Schwarz-Rot

Die Fünf-Prozent-Hürde existiert, weil Deutschland während der Weimarer Republik das andere Extrem kennengelernt hat: zersplitterte Verhältnisse, etliche Kleinstparteien, instabile Regierungen. Deshalb wurde die Sperrklausel zur Bundestagswahl 1953 eingeführt. Bei der historisch ersten Bundestagswahl vier Jahre zuvor galt die Sperrklausel für jedes Bundesland einzeln. Bei der ersten Wahl nach der Wiedervereinigung 1990 wurde die Hürde einmalig getrennt für West- und Ostdeutschland ausgewiesen.

Dass die Klausel stabile Regierungen, wie intendiert, deutlich wahrscheinlicher macht, wird durch das Ergebnis der aktuellen Bundestagswahl bestätigt. Läge die Klausel bei vier Prozent, wie bei Nationalratswahlen in Österreich, oder bei drei Prozent, wie bei den Bezirkswahlen in Berlin und Hamburg, könnten Union und SPD keine gemeinsame Regierung bilden. Stattdessen müsste der designierte nächste Bundeskanzler Friedrich Merz entweder die Grünen oder die FDP als zusätzlichen Koalitionspartner einbinden.

Im hypothetischen Szenario einer Drei-Prozent-Sperrklausel käme die Union auf 188 Sitze (-20). Die AfD würde 137 Abgeordnete (-15) ins Parlament entsenden. Die SPD hätte noch 108 (-12), die Grünen 77 (-8) und die Linke 58 (-6) Sitze im Bundestag. Das BSW wäre mit 33 (+33) und die FDP mit 29 (+29) Abgeordneten vertreten. Dank der Fünf-Prozent-Hürde und wenn das vorläufige amtliche Endergebnis so bestätigt wird, kann Merz also höchstwahrscheinlich unter weniger zersplitterten Verhältnissen regieren.

Funktionsfähigkeit des Parlaments wichtiger

Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten wurde und wird die Fünf-Prozent-Hürde seit Jahrzehnten immer wieder von einigen Verfassungsrechtlern und Politikern kritisch betrachtet. Auch Karlsruhe hat sich mit der Sperrklausel bereits beschäftigt. 1990 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Hürde ausdrücklich für verfassungsgemäß. Karlsruhe urteilte, die Funktionsfähigkeit des Parlaments sei wichtiger als die exakte Widerspiegelung des Wählerwillens.

Die Kernfrage lautet: Wie viel Widerspiegelung des Wählerwillens ist man bereit aufzugeben, um die Funktionsfähigkeit des politischen Betriebs zu erhöhen? Unter Wahlforschern gibt es keine Einigkeit. Manch einer fordert die Absenkung der Sperrklausel auf vier Prozent, andere wollen die aktuelle Regelung beibehalten. Dass die Repräsentationskraft des Bundestags unter einer Sperrklausel leidet, negiert niemand. Gleichwohl herrscht Einigkeit in Deutschland darüber, dass die Regelung grundsätzlich Sinn ergibt. Aber über die Höhe der Hürde wird gestritten.

Grundsätzlich anders entschied das Bundesverfassungsgericht unterdessen im Jahr 2011. Karlsruhe erklärte die Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und damit nichtig. Das EU-Parlament sei anders strukturiert und wähle keine Regierung, die auf andauernde Unterstützung wie in deutschen Regierungskoalitionen angewiesen sei, teilte der damalige Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle mit. Die Arbeit des Brüsseler Parlaments werde durch den Einzug von Kleinparteien nicht unverhältnismäßig erschwert.

Mini-Erfolg für Tierschutzpartei und Satiriker

Wie groß die Repräsentationslücke dagegen im nächsten Deutschen Bundestag ist, zeigt sich auch anhand folgender Rechnung: Bezogen auf die Gesamtzahl von rund 60,5 Millionen Wahlberechtigten bei dieser Bundestagswahl, repräsentieren die Abgeordneten künftig 70,8 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. 42,8 Millionen der insgesamt 49,6 Millionen Wählerstimmen entfielen auf Parteien, die in den Bundestag eingezogen sind. Die Parteien unterhalb der Sperrklausel wurden dagegen von etwa 6,8 Millionen Menschen gewählt. Einige der Wählerinnen und Wähler können sich immerhin damit trösten, dass auch unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde die finalen Ergebnisse nicht komplett egal sind.

Es gibt schließlich auch noch die 0,5-Prozent-Marke. Parteien, die bei der Bundestagswahl mindestens 0,5 Prozent der gültigen Zweitstimmen erhalten, haben Anspruch auf staatliche Finanzmittel. Die Freien Wähler (1,5 Prozent) und die Tierschutzpartei (1,0 Prozent) konnten diese wichtige Hürde souverän überspringen. Auch Volt (0,7 Prozent) und die Satire-Partei "Die Partei" (0,5 Prozent) schafften den Sprung. Einen Auszählungskrimi wie beim BSW gab es bei den Satirikern aber nicht.

"Wieder was gelernt"-Podcast

Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

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Quelle: ntv.de

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