Merz, der Osten und die AfD Dieser Spagat droht die CDU zu zerreißen


Kretschmer und Merz bei einem Termin in Görlitz.
(Foto: imago images / photothek)
Bei rund 20 Prozent steht die AfD im Trendbarometer von RTL und ntv. In Ostdeutschland sind die Werte noch einmal deutlich besser. Das stellt vor allem die CDU vor Probleme. Ihr droht die größte Zerreißprobe ihrer Geschichte.
Umfragen sind wie Pegelstände überlaufender Flüsse, nur umgekehrt: Sinkt der Wert einer Partei zu stark, steht ihr das Wasser bis zum Hals. Steigt er, folgt das große Durchatmen. Bei der AfD kommt eine Sonderwirkung hinzu: Steigen ihre Werte, steigt der Bedrohungspegel für die anderen Parteien, und wie viele sagen, auch für die gesamte Demokratie. Das ist derzeit der Fall. Im Trendbarometer von RTL und ntv stand die Partei zuletzt bei 19 Prozent und damit immer noch vor der SPD.
Das ist besonders für die CDU ein Problem. Noch steht ihr nicht das Wasser bis zum Hals, immerhin ist die Union seit dem vergangenen Jahr in den Umfragen stärkste Kraft in Deutschland. Doch wie Parteichef Friedrich Merz am Wochenende einmal mehr vorgeführt hat, birgt das Thema Sprengstoff. Mit seinem unglücklichen Auftritt im ZDF-Sommerinterview löste er einen Aufschrei auf. Er hatte die kompromisslose Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der AfD infrage gestellt - so wurde er jedenfalls verstanden, auch wenn er beteuerte, das nicht so gemeint zu haben. Merz hatte sinngemäß gesagt, in Parlamenten werde weiterhin nicht mit der AfD zusammengearbeitet, in Städten und Gemeinden gehe es wohl nicht anders.
Auch wohlmeinende Kritiker waren sich einig, dass das zumindest ungeschickt war. Ohne Not entfachte Merz eine neue Debatte über den Umgang der CDU mit der AfD. Diese Frage hat es tatsächlich in sich und stellt die Union auf eine schwierige Probe, vielleicht die schwierigste ihrer Geschichte. Wie soll sie mit der AfD umgehen? Ignorieren geht nicht mehr. Also bekämpfen? Oder doch lieber selbst einen rechteren Kurs fahren, um Wähler zurückzugewinnen?
Grund für die Nervosität ist die unterschiedliche Stärke und Wahrnehmung der AfD in Ostdeutschland. Der Höhenflug der Rechten ist zwar beileibe kein rein ostdeutsches Phänomen. Aber dort ist die Lage noch einmal dramatischer als im Westen: In mehreren Ost-Bundesländern führt die AfD Umfragen mit jeweils etwa 30 Prozent an. Damit richten sich die Augen auf die CDU. Einerseits, weil es ihr am ehesten zuzutrauen ist, Wähler von der AfD zurückzugewinnen. Schließlich ist es ihr Selbstverständnis, dass sie die Wähler rechts der Mitte erreicht und abholt - wenn auch SPD und Linke ebenso Wähler an die AfD verloren. Und andererseits, weil sie eben doch versucht sein könnte, mit der AfD zusammenzuarbeiten.
Kretschmer will nah am Bürger sein
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hat sich für Variante "Rechtskurs" entschieden. Seit 2019 führt der CDU-Politiker eine sogenannte Kenia-Koalition an, also Schwarz-Rot-Grün. SPD und Grüne kamen bei der Landtagswahl 2019 zusammen auf 16 Prozent, Kretschmers CDU gewann die Wahl mit 32,5 Prozent der Stimmen. Die AfD aber war so etwas wie der heimliche Wahlsieger. Um 17,8 Prozentpunkte legte sie zu, stand am Ende bei 27,5 Prozent. Gut sieben Prozentpunkte hatte die CDU verloren, gut acht die Linke. Im kommenden Jahr könnte der Aufstieg der AfD weitergehen.
Kretschmer will das verhindern. Sein Plan: nah am Bürger sein. Regelmäßig besucht er Veranstaltungen in der Provinz und posaunt beinahe wöchentlich Forderungen oder Statements in Richtung Brüssel oder Berlin, die eher nach AfD als nach CDU klingen. So forderte er, die Pipeline Nord Stream 1 zu reparieren, um bald wieder russisches Gas importieren zu können. Die Flüchtlingszahlen müssten runter, notfalls mit einer Grundgesetzänderung, und gegen das Gendern ist Kretschmer sowieso. Seine Unterstützer sagen: Er nimmt die Sorgen der Menschen ernst und gewinnt Vertrauen zurück. Kritiker meinen: "Kretschmer redet der AfD nach dem Mund."
Auch Merz selbst gehörte ursprünglich zum Team Rechtskurs, auch wenn er das so nicht formuliert hätte. Einer der Gründe, warum die CDU-Mitglieder ihn im vergangenen Jahr mit mehr als 60 Prozent zum Vorsitzenden wählten, war sein Versprechen, der CDU wieder ein klares Profil zu geben. Merz weckte die Hoffnung, dass die gesamte Partei wieder konservativer werden würde.
Der Parteichef schlug dann aber durchaus überraschend einen eher mittigen Kurs ein, redete anfangs viel über soziale Gerechtigkeit und holte mit Mario Czaja einen zwar ostdeutschen, aber sehr moderaten Mann vom Sozialflügel als Generalsekretär an seine Seite. Er schuf zudem den Posten einer stellvertretenden Generalsekretärin, die sich um die Kontakte in die Kommunen kümmern soll. Es gab zwar gelegentliche verbale Ausfallschritte nach rechts, siehe Kleine-Pascha-Debatte oder der "Sozialtourismus"-Vorwurf an ukrainische Flüchtlinge (für den Merz sich entschuldigt hat). Aber zugleich bezeichnete Merz den Klimawandel als größte Herausforderung. Außerdem setzte er eine 30-prozentige Frauenquote in CDU-Kreisvorständen durch.
Schwarz-Grün regiert in mehreren West-Bundesländern
Der CDU-Chef sagte, er müsse die ganze Partei führen und könne nicht nur für einen Teil da sein. Das war klug, denn in der alten Bundesrepublik hielt sich der Elan in Grenzen, die Partei wieder mehr an Helmut Kohl als an Angela Merkel auszurichten. Ein solcher Weg würde im Westen ins Abseits führen. Nur noch selten wird es für die CDU möglich sein, allein mit der FDP zu regieren. Will die Partei nicht ständig große Koalitionen mit der SPD schmieden, muss sie also anschlussfähig an die Grünen sein. Über Koalitionen mit der AfD muss und will in westdeutschen Landesverbänden der CDU niemand nachdenken.
In Hessen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen regiert Schwarz-Grün, in Baden-Württemberg Grün-Schwarz. In Kiel hätte Daniel Günther mit der FDP koalieren können. Dass der Ministerpräsident sich lieber mit den Grünen zusammentat, war bemerkenswert. Währenddessen stabilisierte sich die CDU nach der Chaos-Phase Ende 2021 auch bundesweit wieder, Merz schloss am Kirchsee in Bayern Frieden mit CSU-Chef Markus Söder und führte die Partei in den Umfragen wieder der 30-Prozentmarke entgegen.
"30 Prozent sind für das erste Jahr okay", sagte Merz zum Jahresbeginn im Interview mit ntv.de. Doch seitdem hapert es - es geht nicht weiter aufwärts, obwohl die Ampel sich in der Heizungsdebatte nahezu zerlegte. Stattdessen profitierte die AfD von der Unzufriedenheit mit der Bundesregierung. Merz reagierte und wechselte den Generalsekretär aus. Der Neue, Carsten Linnemann, ist ihm ähnlich und ein Mann für Wirtschaft. Einerseits. Andererseits besetzt er auch die Abteilung Attacke. Ihm ist zuzutrauen, Wirkungstreffer im Osten zu landen.
Derweil machte Merz mit seltsam anmutenden Auftritten von sich reden, kam zumindest verbal von seinem Mitte-Kurs ab. So bezeichnete er die CDU als "Alternative für Deutschland mit Substanz", und auch im Sommerinterview eröffnete er viel Interpretationsspielraum. Nach klarer Abgrenzung hörte sich das nicht mehr an. Man kann Merz nun kommunikative Unfähigkeit unterstellen. Das wahre Problem aber ist der Gegensatz zwischen Ost und West, der die Partei zu zerreißen droht.
Ost und West zwei Welten für die CDU
Zu sehr unterscheiden sich die Konfliktlinien im Osten und im Westen. Im Westen sind die Zeiten der gesellschaftlichen Lagerkämpfe vorbei - Schwarz-Gelb auf der einen Seite, Rot-Grün auf der anderen, das war einmal. Es ist vielmehr häufig so, wie Merz es selbst beschrieb: Schwarz-Grün erleben viele bürgerliche Familien heute am eigenen Frühstückstisch - wenn sie mit ihren Kindern diskutieren. In den vergangenen 30 Jahren ist das gegenseitige Verständnis gewachsen, die Fäuste werden nicht mehr geballt, sondern sich die Hände gereicht - auch wenn man sich noch immer herzhaft streiten kann. Der große Gegner, das ist im Westen die AfD.
Im Osten sind die emotionalen Frontstellungen anders. Wer dort in der CDU ist oder sie wählt, fühlt sich meist eher nicht offen für die Grünen. Im Gegenteil, hier werden häufig die Grünen als Gegner wahrgenommen. Dieser Unterschied zwischen West und Ost erklärt auch den Unmut, den Merz auf sich zog, als er jüngst die Grünen als Hauptgegner bezeichnete. Er bezog sich dabei zwar eigentlich nur auf die Ampelkoalition - sofort kam aber die Frage auf, was denn mit der AfD sei. Der damalige Generalsekretär Czaja fand im Deutschlandfunk die Formel, die Grünen seien Hauptgegner im Parlament, die AfD sei aber der "Feind", da sie die Demokratie zersetzte. Das war ein regelrecht salomonischer Versuch, Ost und West zusammenzuhalten.
Trotz aller Gegensätze koalieren CDU und Grüne nicht nur in Sachsen, sondern auch in Sachsen-Anhalt und Brandenburg miteinander, jeweils gemeinsam mit der SPD. Doch entstanden diese Bündnisse, um an der erstarkenden AfD vorbei eine demokratisch gesinnte Regierung zu bilden. Grüne und eher liberal gesinnte CDUler der Leitungsebene blicken dort in den gleichen blauen Abgrund. Viel mehr Gemeinsamkeiten gibt es nicht. Vor allem nicht an der Basis.
Dagegen gibt es in Teilen der CDU auch Sympathien nach rechts. Vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt gab es 2019 beispielsweise ein Papier zweier Unionsabgeordneter, die das Verbot von Koalitionen mit der AfD infrage stellten und allen Ernstes forderten, das "Nationale und das Soziale" wieder zu versöhnen. Da nicht an Nationalsozialismus zu denken, fällt schwer. Der Politikwissenschaftler Benjamin Höhne sagte ntv.de, im Osten fehle die scharfe Abgrenzung nach Rechts, so wie sie in Westdeutschland noch viel stärker vorhanden sei. Habituell seien sich viele CDUler und AfDler einander näher als den Grünen. Die AfD habe erkannt, dass es ihr im Osten nicht schadet, neben den Wählern rechts der Mitte auch die rechtsextremen, die Kameradschaften, die einstigen DVU- und NPD-Wähler anzusprechen.
Merz' hatte einen guten Plan - auf dem Papier
Merz ist sich der Gegensätze durchaus bewusst. Er hatte sogar einen Plan, der zumindest auf dem Papier gut aussah. Er versuchte, das Problem zu managen, indem er unterschiedliche Köpfe der verschiedenen Parteiflügel stark machte. So ist etwa die eher liberale Karin Prien unter seiner Ägide stellvertretende Bundesvorsitzende geworden. Generalsekretär Czaja kam aus dem Sozialflügel der Partei. Zugleich steht er an der Seite Michael Kretschmers und anderer konservativer CDU-Politiker im Osten. Das klang nach Volkspartei im besten Sinne.
Doch bei den Wählern zog das nur bedingt. Dass nicht einmal Merz, der im Osten Hoffnungen ausgelöst hatte, mehr erreichte, geht nur zum Teil auf seine Kappe. Das große Problem der CDU ist vielmehr, dass sie sich nicht glaubhaft als Oppositionspartei profilieren kann. Da sind zunächst einmal die 16 Jahre der Ära Angela Merkel, die noch nachwirken. Deren Politik etwa in der Flüchtlingskrise oder der Pandemie stieß in Teilen des Ostens auf besonders erbitterte Ablehnung. Auch wenn sich die CDU bemerkenswert schnell von der einstigen "Mutti" gelöst hat, die Erinnerung an die Zeit als Kanzlerinnenpartei ist noch frisch.
Hinzu kommt, dass es der CDU schwerfällt, sich auf Bundesebene von der Regierung abzuheben. Das spricht eher für sie, denn in wichtigen Politikfeldern verhält sich die Partei einigermaßen konstruktiv. In der Ukraine-Politik etwa trägt sie die grundsätzliche Richtung mit und drückt eher aufs Tempo als zu bremsen. Die neuerliche Flüchtlingswelle aus der Ukraine sowie die hohe Inflation infolge des Krieges dürften aber entscheidende Treiber des AfD-Höhenflugs sein. Insofern kann die Union hier nur die Zähne zusammenbeißen und versuchen, die Wähler davon zu überzeugen, dass ihre Politik die richtige ist.
Auch der Klimaschutz scheidet als Profilierungsthema für die CDU aus, denn dabei steht sie zwar auf der Bremse, erkennt aber grundsätzlich den Handlungsbedarf an. So hebt sie sich nicht klar von der Regierung ab. Der Politikberater Timo Lochocki leitete daraus bei ntv.de ab, dass die CDU sich auf die Verteidigungspolitik konzentrieren solle.
Am schwersten wiegen für die CDU aber wohl die Zwänge der Koalitionsoptionen. Wer gegen die Ampel ist, wer gegen Grüne und SPD ist, für den ist die CDU nur bedingt attraktiv, so sehr sich deren Abgeordnete auch abmühen. Denn in der Regel muss diese ein Bündnis mit der einen oder der anderen oder gar mit beiden Parteien eingehen, da es allein mit der FDP meist nicht mehr zu einer Mehrheit reicht. Bündnisse mit der Linken hat die Partei ausgeschlossen, ebenso mit der AfD. Insofern kann sich die CDU noch so sehr an Grünen und SPD abarbeiten, AfD-Wähler zurückzugewinnen wird schwierig. Sofern das überhaupt möglich ist - denn man macht es sich zu leicht, wenn man deren Anhänger nur als Protestwähler entschuldigt. Ein großer Teil wählt die AfD nicht, obwohl sie rechts ist, sondern weil sie es ist.
Wie die CDU im Osten Vertrauen zurückgewinnen will, ohne ihre West-Seele zu verkaufen, wird sie noch lange beschäftigen. Hoffnung kann sie daraus schöpfen, dass es eine Chance gibt - denn In Ostdeutschland ist die Parteienbindung sehr schwach, die Menschen wählen mal so, mal so. "Bei jeder Wahl werden die Karten aufgrund geringer Parteibindungen im Grunde neu gemischt", sagt Politikwissenschaftler Höhne. Bis dahin müssen die demokratischen Politiker, auch die der CDU, weitermachen. Den Menschen überzeugende Angebote machen - eben, das, was gemeinhin als "gute Politik" bezeichnet wird. In der Hoffnung, dass sich der Wind wieder dreht.
Quelle: ntv.de