"Keine Zeit zu verlieren" EU hofft auf schnelle Regierungsbildung
27.09.2021, 16:20 Uhr
Ein wenig unruhig blicken die europäischen Länder auf Deutschland nach der Wahl. Eine lange Phase der Regierungsbildung könnte Konsequenzen für die EU und vor allem für Frankreich bedeuten. Eines sorgt jedoch für Erleichterung: Mit Scholz und Laschet wird die Merkel-Ära quasi fortgeführt.
Nach dem knappen Wahlausgang in Deutschland schwankt die Europäische Union zwischen Erleichterung und Unruhe: Erleichterung, weil unter den möglichen Kanzlern Olaf Scholz und Armin Laschet kein radikaler Bruch mit der Merkel-Ära droht. Unruhe, weil sich eine zähe Regierungsbildung abzeichnet.
Dies könnte vor allem für Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zum Problem werden, der am 1. Januar den rotierenden Vorsitz der EU-Staats- und Regierungschefs übernimmt. Kurz vor der Entscheidung über seine Wiederwahl hofft Macron auch auf Berlin, um gegen seine ärgste Konkurrentin Marine Le Pen zu punkten.
Als einer der ersten reagierte am heutigen Montag der französische Europa-Staatssekretär Clément Beaune auf das Berliner Wahlergebnis. "Die Deutschen haben gewissermaßen (Bundeskanzlerin Angela) Merkel gewählt", stellte Beaune im Sender France 2 zufrieden fest. Für Frankreich sei dies gut, denn ein Richtungswechsel beim wichtigsten EU-Partner sei nicht zu befürchten.
Scholz wie auch Laschet hatten sich im Wahlkampf quasi als Merkel-Erben inszeniert - der SPD-Kandidat sogar mit Merkel-Raute auf einem Titelfoto im Magazin der "Süddeutschen Zeitung". Deutschland stehe für Stabilität und Kontinuität, sollte dies den europäischen Partnern signalisieren.
Glückwunsch-Regen für Scholz
Vor allem für Scholz regnete es zunächst Glückwünsche aus Brüssel und anderen Hauptstädten: Führende Sozialdemokraten wie EU-Vizekommissionspräsident Frans Timmermans aus den Niederlanden, Europaparlaments-Präsident David Sassoli aus Italien und der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn bejubelten das "starke" Ergebnis des deutschen Genossen.
Die Pariser Bürgermeisterin und Präsidentschaftskandidatin der französischen Sozialisten, Anne Hidalgo, äußerte auf Twitter die Hoffnung, dass Scholz der nächste Kanzler werde. Sie war eigens zu seiner Abschlusskundgebung nach Köln gereist.
Dass nun auch in Deutschland erstmals drei Parteien zur Regierungsbildung nötig sind, bezeichnete Asselborn als "neue Normalität, wie sie in anderen europäischen Ländern längst der Fall ist". Für eine gewisse Nervosität sorgt in der EU allerdings, dass sich nun eine womöglich langwierige Regierungsbildung mit Grünen und FDP abzeichnet.
Europaparlaments-Präsident Sassoli rief die Berliner Parteien zu einer raschen Regierungsbildung auf, vor allem wegen der heftigen Nachwirkungen der Corona-Pandemie: "Nach dieser historischen Krise gibt es keine Zeit zu verlieren", mahnte er auf Twitter. "Europa braucht einen starken und verlässlichen Partner in Berlin, damit wir unsere gemeinsame Arbeit für eine soziale und grüne Erholung fortsetzen können."
Macron braucht Berlin für eigene Wahl
Besonders Frankreichs Staatschef Macron ist auf Deutschland angewiesen. Denn er will bei der Präsidentschaftswahl im kommenden April gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen auch mit Erfolgen in Europa punkten. Dafür ist eine enge Abstimmung mit Berlin unumgänglich.
"Wenn die neue deutsche Regierung im Januar steht, wäre das perfekt für Macron", sagt Eric Maurice von der Brüsseler Forschungsschmiede Fondation Robert Schuman. Vor der Frankreich-Wahl im April habe der französische Präsident "für Initiativen in Europa nur ein knappes Zeitfenster zwischen Januar und Mitte März", danach sei er zur Neutralität verpflichtet.
Luxemburgs Außenminister Asselborn hofft, dass die neue Bundesregierung bis Weihnachten steht. Ansonsten drohe Europa "eine lange Phase der Untätigkeit", warnte er in der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Wegen wichtiger Weichenstellungen in der Klimapolitik oder im Streit mit Polen und Ungarn um die Rechtsstaatlichkeit könne es sich die EU nicht leisten, wenn wichtige Länder wie Deutschland oder Frankreich als Taktgeber lange ausfielen.
Kanzlerin Merkel hatte kürzlich bei einem Paris-Besuch versichert, sie werde als geschäftsführende Regierungschefin alles tun, um einen "Stillstand" in Europa zu vermeiden. Damit kann sie bereits in Kürze anfangen: Sie wird am 21. Oktober zum nächsten EU-Gipfel in Brüssel erwartet.
Quelle: ntv.de, Stephanie Lob und Ulrike Koltermann, AFP