Was britische Wähler sagen ''Es ist unglaublich deprimierend''
10.06.2019, 22:06 Uhr
Anti-Brexit-Kampagnen außerhalb des britischen Parlaments
(Foto: Imago Images )
Die Europawahl hat einmal mehr gezeigt: Großbritannien bleibt zwischen Brexit-Fans und Brexit-Gegnern gespalten. Doch was regt sie auf, was wollen sie? In loser Folge lassen wir ganz normale Briten zu Wort kommen. Die 21-jährige Politikstudentin Jenifer Elmslie ist entsetzt von dem politischen Chaos und der fremdenfeindlichen Hetze in ihrer Heimat. "Es hätte gar kein Referendum geben dürfen", sagt sie.
Wir sind genauso gespalten wie zuvor. Vielleicht sogar mehr. Das haben die Ergebnisse der Europawahlen vor Kurzem gezeigt. Obwohl es kein kompletter Sieg für Nigel Farage und seine Brexit-Partei war, gab es keine Hoffnung für die Parteien in der Mitte. Die britische Öffentlichkeit hat dem britischen politischen Establishment den Mittelfinger gezeigt. Allerdings ist uns nicht klarer geworden, was das für den Brexit bedeutet.
Es ist unglaublich deprimierend. Als Politikstudentin habe ich das Verhalten der Abgeordneten im Parlament als extrem enttäuschend empfunden, und es hält mich davon ab, eine Karriere in der Politik zu machen. Ich fand die Wut auf Premierministerin Theresa May, als sie die Labour-Partei in die Verhandlungen einbeziehen wollte, äußerst ungerecht. Ein großer Teil dieses Landes stimmte für Labour, warum sollte die Partei nicht auch ein Mitspracherecht haben? Welches Bild gibt es ab, wenn erwachsene Politiker unsere Premierministerin dafür kritisieren, dass sie mit der Opposition spricht?
Noch 2016 hätte ich die gegenwärtige Lage nicht erwartet. Alle meine Freunde, Familienmitglieder und ich stimmten dafür, in der EU zu bleiben. Erst als ich an die Universität ging, traf ich Leute, die für den Brexit waren. So naiv das auch scheint: Es herrschte unter den meisten Jugendlichen die Meinung vor, dass wir in der Europäischen Union bleiben müssten. Dass dies der einzige Weg nach vorn sei.
Die Referendumskampagne war eine hässliche Zeit für die britische Politik, und ein Teil der Rhetorik war völlig inakzeptabel. Bei vielen rassistischen Sprüchen gegen Migranten hätte ich nicht geglaubt, dass diese im Vereinigten Königreich möglich wären. Ich denke, dass die Kampagne viele xenophobe Gefühle freigesetzt hat, die lange Zeit nur unterschwellig vorhanden waren. Die Taktik einiger Politiker halte ich für verwerflich - insbesondere Farages Poster mit Männern aus dem Mittleren Osten, von dem viele sagten, dass es der Nazi-Propaganda ähnele. Das ist eine Art von Rhetorik und Panikmache, die in der gegenwärtigen britischen Politik tabu sein sollte.
Überhaupt hätte es das Referendum gar nicht geben dürfen. Wir wählen unsere Abgeordneten, damit sie uns im Parlament vertreten und vertrauen darauf, dass sie komplexe Fälle prüfen und die richtigen Entscheidungen treffen. 2016 war mir - und wohl vielen - nicht klar, wie kompliziert die Frage eines EU-Austritts ist. Ich hatte keine Ahnung von den Strukturen der EU und wie eng wir miteinander verflochten sind. Deshalb glaube ich, dass so eine komplexe Entscheidung nicht mit einem Referendum entschieden werden darf, und schon gar nicht mit einer simplen Ja-oder-Nein Frage.
Nachdem der EU-Austritt noch einmal auf Ende Oktober dieses Jahres verschoben wurde, denke ich, dass definitiv ein zweites Referendum abgehalten werden sollte. Dafür gibt es eine große Unterstützung, vor allem unter den jungen Menschen in England, die der Brexit politisiert hat. Weil es unsere Zukunft ist, über die die Regierung debattiert, wäre es so dumm, junge Menschen nicht darüber mitentscheiden zu lassen. Zumal viele, die 2016 noch nicht wählen durften, inzwischen im Wahlalter sind.
Ja, das Land hat für den EU-Austritt gestimmt, aber wie kann man für etwas stimmen, wenn man nicht weiß, wie es aussieht? Wir merken jetzt, dass es so viele verschiedene Optionen für den Brexit gibt und einige von ihnen sind selbst für Brexiteers unattraktiv. Ein zweites Referendum ist der einzige demokratische Weg, jetzt, da wir die verschiedenen Brexit-Szenarien kennen. Nur so können wir entscheiden, ob wir aus der EU austreten wollen oder nicht.
Obwohl die EU definitiv viele Probleme hat, überwiegen die Vorteile bei Weitem die Nachteile. Die Arbeitsplätze, die Freizügigkeit, die wirtschaftliche Stabilität und die damit verbundene enge Verflechtung sind etwas, das wir für selbstverständlich gehalten haben. Ich hätte gerne die Freizügigkeit genutzt, um in Zukunft in anderen europäischen Ländern leben und arbeiten zu können. Das ist mir jetzt genommen worden. Arbeit zu finden und zu reisen, wird für Briten nach dem Brexit viel schwieriger werden. Auch sozial und kulturell wird die britische Jugend stärker vom Kontinent abgeschnitten sein. Programme wie Erasmus, an denen unsere Eltern teilnehmen konnten und die engere kulturelle Beziehungen zwischen den Ländern förderten, werden für junge Briten nicht mehr möglich sein.
Außerdem sehen wir bereits die Folgen des Brexits, obwohl wir noch gar nicht aus der EU ausgetreten sind: Die geschätzten Kosten für den Steuerzahler betragen pro Woche 600 Millionen Pfund, und die Abwertung des Pfunds betrifft schon heute den Handel und den Alltag vieler Briten. Wenn dies nur der Vorspann zum Brexit ist, möchte ich gar nicht wissen, wie dieser am Ende aussehen wird.
Aufgezeichnet von Constance Simms